SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit
Weg entschieden. Das habe sicher auch mit der besonderen Geschichte des Landes zu tun.
Bis Anfang der sechziger Jahre war das buddhistische Königreich völlig isoliert von der AuÃenwelt. Die Moderne hatte hier nicht stattgefunden. Es gab weder Autos noch StraÃen. »Wenn meine Eltern von einem Ende des Landes zum anderen hätten reisen wollen, hätte es einen Monat gedauert, und sie hätten nur zu Fuà gehen können«, sagt der Minister. Bhutan hatte keine Währung und bis 1968 keine Bank. Die bedächtige und sehr langsame Ãffnung des Landes wurde vom 1972 als Teenager zum vierten Drachenkönig gekrönten Thronfolger Jigme Singye Wangchuck eingeleitet. 1974 durften die ersten Touristen Bhutan besuchen, 1983 wurde der bislang einzige Flughafen in Betrieb genommen, 1999 wurde in Bhutan, als letztem Land der Erde, das Fernsehen eingeführt, 2004 der Mobilfunk.
»In den letzten vier Dekaden, in meiner Lebenszeit, hat sich das Dasein hier gewaltig verändert. Heute können Sie an einem Tag von einem Ende Bhutans zum anderen fahren. Meine Eltern haben als Erwachsene das erste Mal ein Auto gesehen; und als ich aus der Schule kam und ihnen erzählte, dass ein Mann auf dem Mond gelandet sei, haben sie es mir nicht geglaubt. Die Generation meiner Eltern hat gewaltige Veränderungen gesehen. Von nichts, nicht einem Kilometer StraÃe im ganzen Land, bis heute, wo man mit dem Flugzeug um die Welt düsen kann, wo man durch das Kabelfernsehen in jede Ecke der Welt vordringen kann, wo man im Internet Computerspiele mit Leuten auf fünf Kontinenten gleichzeitig spielen kann. Hier in Bhutan war und ist das Leben noch immer einfach langsamer«, sagt Karma Tshiteem, und ich glaube es ihm sofort. Wo sonst würde sich ein leibhaftiger Minister so lange Zeit nehmen, um mit mir über die Welt zu philosophieren?
Für Aufmerksamkeit sorgte Bhutan aber vor allem durch ein Interview, das der König 1986 der Financial Times gab. Die Zeitung hatte kritisiert, dass das wirtschaftliche Wachstum in Bhutan nicht schnell genug ginge. Darauf antwortete der König selbstbewusst, dass für die Regierung Bhutans bei jedem Entwicklungsschritt und bei jeder politischen Entscheidung das Wohl und das Glück der Menschen in Bhutan oberste Priorität hätten. Danach würde sich die Politik in Bhutan ausrichten, nicht nach dem Wirtschaftswachstum. Der Begriff Gross National Happiness war geboren. Im Jahr 2006 übergab der vierte König die Amtsgeschäfte an seinen Sohn, den fünften König. 2008 wurde die Demokratie in Bhutan eingeführt, Parlamentswahlen wurden abgehalten. Der fünfte König ist nur noch repräsentatives Staatsoberhaupt Bhutans. Doch wenn es nach ihm geht, soll das Land weiter am Bruttonationalglück festhalten. Und das will auch die demokratisch gewählte Regierung.
»Beim Bruttonationalglück geht es darum, der Entwicklung des Landes die Richtung, die Inhalte und das Tempo zu geben, die die Bhutanern für richtig halten.« Der Minister hat eine angenehme und ruhige Art zu sprechen, in flieÃendem Englisch. Man merkt ihm an, dass er schon viel herumgekommen ist in der Welt und dass er weiÃ, wovon er spricht. »Wenn Sie heute durch Bhutan reisen«, gibt er mir mit auf den Weg, »werden Sie sehen, dass das Leben hier, vor allem in den Dörfern, viel langsamer ist als anderswo. Und ich glaube, unter anderem deswegen sind die Leute hier auch glücklich.«
Man scheint es hier wirklich ernst zu meinen mit dem Glück als Ziel der Politik. Das klingt ja alles schon mal sehr gut, aber funktioniert Bruttonationalglück denn auch im Alltag des Landes? Und wenn ja, wie? So nett ich den Glücksminister finde: Offizielle machen mich immer misstrauisch. Selbst in Bhutan.
Kurz darauf, sitze ich wieder im Taxi, einem wirklich kleinen Daihatsu-Minibus, und fahre vom wunderschönen Dzong von Thimphu aus in die Berge aufs Land. Mein Fahrer Kinley ist Mitte zwanzig, hat halblange Haare, einen Mittelscheitel, einen Ohrring und trägt wie alle Taxifahrer, Beamte und Angestellte den bademantelähnlichen Gho. Nach ein paar Sätzen weià ich, dass Kinley ein groÃer FuÃballfan ist. Sein Herz schlägt speziell für die europäische Champions League, und da für Manchester United. Also eigentlich alles ganz normal in Bhutan, wie überall sonst.
Was er vom Bruttonationalglück halte und ob er selbst sich als
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