SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit
Hallo, wer ist in der Leitung?«
»Jigme«, antwortet der Hörer.
»Hallo, Jigme. Hast du eine Frage oder eine Meinung zum Bruttonationalglück?«
»Ja, hab ich. Wie lässt sich Glück überhaupt messen?«, fragt der Anrufer.
Hmm, gute Frage, denke ich. Genau, das würde ich auch gern wissen.
»Genau. Wie misst man Glück?«, meint Johnny Bravo. »Diese Frage verfolgt mich auch irgendwie. Immer wenn ich im Ausland bin, fragen die Leute mich das Gleiche: Ah, du bist aus Bhutan, tolles Land, oh, Bruttonationalglück: fantastische Idee. Aber wie messt ihr das?«
Wir fahren über eine PassstraÃe, inzwischen sind wir wieder über den Wolken angekommen. Mit groÃen Mühen erklimmt unser kleiner Taxibus den Dochula-Pass auf knapp 2300 Meter Höhe. Bei gutem Wetter kann man von dieser Höhe aus viele Kilometer weit ins Bergmassiv des Himalajas sehen, erklärt mir Kinley, der Taxifahrer. Es ist gutes Wetter. Ein solcher Anblick ist wohl gemeint, wenn man vom »Dach der Welt« spricht. Ein Traum für Alpinisten. Auch wenn der Hochalpinismus in Bhutan verboten ist. Man hat aus den Müllbergen in anderen Himalajagegenden gelernt, den die Bergsteigerexpeditionen dort jedes Jahr zurücklassen. Der Gangkhar Puensum in Bhutan ist mit 7541 Metern der höchste unbestiegene Gipfel der Welt.
Oben auf dem Dochula-Pass stehen 108 Chörten, kleine gemauerte Schreine für Gebetsrollen zur Verehrung Buddhas. Daneben flattert ein Meer von Gebetsfahnen im Wind. Der Buddhismus ist tief verwurzelt in Bhutan, seit Shabdrung Ngawang Namgyal, ein Abt aus einem buddhistischen Kloster in Tibet, mehrere kleine Fürstentümer vereinigte und Bhutan gründete. Und zur Verteidigung des Landes und des Glaubens die ersten Dzongs bauen lieÃ. Spirituelle und materielle Welt flieÃen in Bhutan ineinander. Es gibt Zehntausende Mönche, zweitausend Klöster, 25 Dzongs, einen in jeder Region, überall Chörten, Gebetsmühlen und Gebetsfahnen. Der tantrische Mahayana-Buddhismus ist Staatsreligion.
Das Ziel unserer Fahrt liegt im nächsten Tal und ist der Dzong von Punakha, der laut Kinley der schönste Bhutans ist. Er liegt direkt am Zusammenfluss der Gebirgsflüsse Pho Chhu, dem männlichen Fluss, und Mo Chhu, dem weiblichen Fluss. Im Dzong von Punakha wachen die Mönche seit mehr als dreihundert Jahren über die sterblichen Ãberreste des Staatsgründers Shabdrung Ngawang Namgyal. Bis 1955 war hier auch die Winterhauptstadt Bhutans, und heute noch ist es die Winterresidenz des zentralen Mönchskonvents, der über die spirituellen Geschicke des Landes entscheidet. Der Punakha-Dzong ist also einer der bedeutendsten Orte des Landes. Doch deswegen zieht es mich nicht dorthin. Ich treffe mich dort mit Dasho Karma Ura, dem wichtigsten Intellektuellen Bhutans, im buddhistischen wie im westlichen Sinne. Dasho Karma Ura hat in Oxford studiert und ist einer der ganz wenigen Bhutaner mit einem Doktortitel. Er leitet das Zentrum für Bhutanstudien und versucht seit Jahrzehnten im Auftrag der Regierung zu ergründen, was die Bhutaner eigentlich glücklich macht. Und zu messen, ob sie überhaupt glücklich sind, und wenn ja, warum. Was ist das Geheimnis des Glücks in Bhutan?
Kann eine Regierung die Menschen etwa glücklich machen, ihnen Glück liefern?
»Natürlich nicht! Glück ist ja keine Substanz wie Marihuana, die man an die Leute verteilen kann«, antwortet der Gelehrte. »Das wäre auch ein menschenverachtender Ansatz, denn damit würde man Menschen ja als Glücksmaschinen betrachten, die man an der kurzen Leine halten könnte. Aber das ist nicht die Idee des Bruttonationalglücks. Glück ist, wenn die Menschen die Möglichkeit haben, ihr Potenzial voll zu entfalten. Dafür die Voraussetzungen zu schaffen ist das Ziel des Bruttonationalglücks.« Die allermeisten Regierungen lieÃen sich jedoch nicht von solch einem Ziel oder von den Bedürfnissen ihrer Bürger leiten, sondern verfolgten andere Interessen. Die des Big Business, der Wirtschaft, des Handels, der Kommerzialisierung, der Privatisierung.
Dasho Karma Ura lebt und arbeitet mit seinem Forschungsinstitut eigentlich in Thimphu, doch er hat sich gerade für einige Tage ins Kloster im Dzong von Punakha zurückgezogen, um zu meditieren und nachzudenken. Er sitzt mir in einem kleinen Raum gegenüber und gieÃt Jasmintee auf. Hinter ihm
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