SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit

streift lose Papierstapel, einen Haufen englischer Zeitungen und Bücher. Ich wundere mich. Wie kommt es, frage ich den Dasho, dass ausgerechnet hier, in einem kleinen abgelegenen Land mitten im Himalaja, an einer veritablen Alternative zu unserem knapp zweihundert Jahre alten System des Wachstum und der Beschleunigung gebastelt wird? Dasho Karma Ura zwirbelt sich an seinem Schnurrbart, dann streicht er sich über die Halbglatze, als müsse er noch einmal über die richtige Antwort nachdenken. Die Idee sei eigentlich schon immer da gewesen, sie sei im Buddhismus enthalten, sagt der Wissenschaftler. Denn im Buddhismus ginge es ja darum, Glück zu schenken oder zumindest die Bedingungen für Glück.
    Dann gehen wir zusammen über den Hof aus dem Kloster zu einem kleinen Restaurant am Rande der Straße, wo er für uns beide Chili mit Yakkäse und Reis bestellt. Es ist ziemlich scharf und schmeckt köstlich. Mir fällt die Frage des Anrufers bei Radio Valley wieder ein, die Johnny Bravo, der Moderator, ihm auch nicht beantworten konnte. Wie lässt sich Glück messen? Zählt man etwa, wie oft Menschen lachen?
    Dasho Karma Ura und sein Zentrum versuchen genau das seit 1999 im Auftrag der Regierung, das Glück der Bhutaner zu erforschen und herauszufinden, was die Bürger des Landes glücklich macht. Dafür sind Ura und seine Mitarbeiter durchs Land gezogen und haben Tausende Einwohner Bhutans befragt. Dabei gehen sie streng wissenschaftlich vor. 290 Fragen bilden die Grundlage einer detaillierten Erhebung, mit der die Gemütslage des Volkes permanent erhoben wird. Mitarbeiter des Centre for Bhutan Studies gehen damit von Haus zu Haus. Antworten zu bekommen sei gar nicht so einfach, sagt Ura, denn die Bhutaner seien ein eher zurückhaltendes und schüchternes Volk.
    Die zusammengetragenen Ergebnisse werden akribisch ausgewertet und sollen als konkrete Empfehlungen in die Politik einfließen. Und die Regierung will die Politik danach ausrichten. Jede Gesetzesänderung oder öffentliche Investition muss sich daran messen lassen, ob sie tatsächlich dem Allgemeinwohl dient. Die Regierung richtet sich nach den Wünschen der Bürger. Eigentlich ja ganz selbstverständlich, aber doch auch irgendwie revolutionär, finde ich.
    Ura und seine Leute haben 72 Faktoren auf neun Ebenen ausmachen können, die für die Bhutaner zum Glücklichsein gehören. Sie sind jetzt zu offiziellen Zielen des Bruttonationalglücks und damit zur Politik des Landes geworden. Was ist den Menschen in Bhutan also wichtig für ihr Glück?
    Wenig überraschend, sind das natürlich Lebensstandard, Bildung, Gesundheit, gute Regierungsführung und der Schutz der Umwelt. Doch daneben gehören dazu auch das psychologische Wohl des Einzelnen, seine Verwurzelung in der Gemeinschaft und die Kultur des Landes. Besonders wichtig sei den Bhutanern aber die Zeit, über die sie frei verfügen können, erklärt Dasho Karma Ura, der Glücksforscher.
    Wir laufen am Ufer des Flusses Pho Chhu entlang, wo gerade ein Turnier im Bogenschießen stattfindet. Yangphel, das Bogenschießen, ist der Nationalsport Bhutans. Ura und ich setzen uns auf eine Bank und sehen dem Treiben eine Weile zu. Ich gebe mir alle Mühe, die Spielregeln zu verstehen. Beim bhutanischen Bogenschießen treten jeweils zwei Teams gegeneinander an, die versuchen, eine Zielscheibe in circa 150 Meter Entfernung zu treffen. Zwischen den Runden bilden die Schützen einen Kreis, motivieren sich mit einem rituellen Tanz, zu dem sie singen und am Ende so etwas wie einen Schlachtruf ausstoßen, den ich natürlich nicht verstehe. Das Ganze hat etwas von einer Folkloreveranstaltung. Der Wettkampfort ist geschmückt. Die Schützen tragen alle das traditionelle Gewand Gho. Im krassen Kontrast dazu stehen die topmodernen Sportbögen aus Kunststoff, die so aussehen, als würden sie locker den Ansprüchen jedes olympischen Wettkampfs genügen.
    Am Wochenende finden überall in Bhutan solche Turniere statt. Die Bogenturniere sind ein wichtiges kulturelles und soziales Ereignis für jedes Dorf. Hier tauscht man sich aus, und hier feiert man nach einem Turnier zusammen. Auch die Pflege solcher Traditionen ist ein wichtiger Teil des Bruttonationalglücks, erklärt mir Dasho Karma Ura.
    Der wichtigste Aspekt des Bruttonationalglücks, fährt er mit seinen Erläuterungen über das Glück fort,