SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit
sei aber die Zeit. Die Natur basiere auf einem Zirkel von 24 Stunden. Nicht einer Woche, einem Monat, einem Jahr, sondern 24 Stunden. Und in modernen hochtechnologisierten Gesellschaften gebe es längst eine Zeitkrise. Die Menschen hätten keine Zeit mehr: »Sie rasen und denken nicht mehr nach, warum sie eigentlich tun, was sie tun. Der Einzelne und die Gesellschaft als Ganzes. Für die einen schrumpft die Freizeit immer weiter zusammen, die anderen haben zu viel davon und keine Arbeit. Die Gesellschaft ist gespalten. Es gibt die Arbeitslosen und die, die sich selbst ausbrennen. Zwischen denen müsste doch eine Brücke gebaut werden. Die, die zu viel arbeiten, müssen Arbeit abgeben. Zum Bruttonationalglück gehört, dass der Tag ausgeglichen ist, dass er grob in drei gleiche Teile geteilt sein sollte: acht Stunden arbeiten, acht Stunden frei verfügbare Zeit und acht Stunden schlafen. Eine solche Aufteilung trägt definitiv zum Glück und Wohlbefinden der Menschen bei.«
Nach einem langen Spaziergang entlang des Flusses sind wir wieder am Dzong angekommen. Es hat geregnet. Langsam verziehen sich die Wolken. Es ist kühler geworden. Nebelschwaden und Wölkchen wabern um die grünen Berghänge. Es liegt eine mystische Stimmung über dem Punakha-Tal. Zum Abschied gibt mir der Glücksforscher noch einen Satz mit auf den Weg, der mich noch sehr beschäftigen wird.
»Wir, Sie und ich, haben die Freiheit, zumindest den Weg in Richtung Glück einzuschlagen. Wie? Ein Weg zum Glück ist, die Kontrolle über die eigene Zeit zurückzugewinnen und die Dinge zu machen, die einem wichtig sind.«
Am nächsten Morgen fahren wir weiter übers Land. Eine Stunde von Punakha entfernt halten wir an einem kleinen Gemüsestand am StraÃenrand, an dem ein paar Bauersfrauen Reis, Mais, Kohl, Kartoffeln, Chili und Rettich in kleinen Körben verkaufen. Ihre Kinder spielen in den Pfützen neben dem Stand. Auf der anderen StraÃenseite wechselt ein Mann einen Reifen an seinem Taxi. Neben dem Stand führt ein sandiger Pfad hinunter zum Fluss und zu einem kleinen Dorf. In dem Dorf lebt ein Cousin meines Fahrers Kinley mit seiner Familie. Er ist, wie alle hier, Bauer. Kinley möchte schnell bei der Familie des Cousins vorbeischauen. Ich begleite ihn. Das Dorf besteht aus einer Gruppe von traditionellen bhutanischen Bauernhäusern, die mit buddhistischen Ornamenten verziert sind, unter anderem mit gewaltigen Penissen. Sie sollen, erklärt mir Kinley, an den verrückten Heiligen Lama Drukpa Kunley erinnern und Unglück vertreiben. Der verrückte Lama liebte den Alkohol und die Frauen und erschlug der Legende nach mit seinem erigierten Penis einen Dämon. Eine super Geschichte, finde ich.
Drei ziemlich dürre Kühe spazieren auf den matschigen Pfaden zwischen den Häusern hin und her. Vor den Häusern werden Chilischoten auf Tüchern in der Sonne getrocknet. Das Dorf ist umgeben von Reisfeldern in voller Blüte. Die Ernte steht kurz bevor. Namgay, der Cousin Kinleys, ist etwas schüchtern. Es kommt wohl eher selten vor, dass Kinley Besuch von weit weg mitbringt. AuÃerdem spricht er kein Englisch, nur Dzongkha. Doch nach ein paar Minuten verliert er seine Scheu und beginnt sich dafür zu interessieren, was mich von so weit weg ausgerechnet in sein Dorf verschlagen hat. Kinley erklärt es ihm und übersetzt zwischen uns.
Von Bruttonationalglück, sagt Namgay, habe er schon mal gehört, er könne aber nicht so genau erklären, was es ist. Er sei ja den ganzen Tag auf dem Feld. Für Politik bliebe da keine Zeit. Ob sich das Leben in den letzten Jahren denn irgendwie verändert habe?
Ja, sehr, antwortet Kinleys Cousin. Das Leben auf dem Land sei in den letzten Jahren schon einfacher geworden, vor allem seit die Regierung die StraÃe gebaut und die Probleme mit der Wasserversorgung gelöst habe. Man habe jetzt sauberes Wasser zu trinken und könne die Felder leichter bewässern. Und seit letztem Jahr gebe es ja sogar die Hängebrücken über den Fluss. Das erspare den Dorfbewohnern einen zweistündigen Umweg zu ihren Feldern.
Ob er und seine Familie denn glücklich seien oder ob sie noch groÃe Probleme hätten, frage ich Namgay.
Er muss kurz überlegen. Er steht vor einer riesigen Gebetsmühle und trägt ein orangefarbenes T-Shirt mit einem VW-Hippiebus darauf. Wenn er spricht, sieht man seine vor lauter
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