Speichelfaeden in der Buttermilch
viele Zuschauer haben sich übergeben, Kinder weinten. Mit blutunterlaufenen Augen schrie er besoffen immer wieder: »Ich fresse euch alle!« Da war nichts Menschliches mehr. Mit dem Blut der toten Hähne bemalte er dann seinen ungeheuren Bauch und steckte sich die 16 abgerissenen Hahnenkämme ins Haar und torkelte ins Revolutionsmuseum, wo er lallend vor einer Che-Guevara-Büste eine Wärterin zwang, mit ihm zusammen durch ein Megafon den obszönen Gassenhauer »Olé, wir fahren ins Puff nach Barcelona« zu grölen. Dank meiner großzügigen Bestechungsgelder sehen die kubanischen Behörden noch von einer Ausweisung ab. Ich selbst übersetze in spiritueller Verbundenheit mit dem von mir so geliebten José Martí dessen Werk »Nuestra América« ins Plattdeutsche. Außerdem lausche ich dem zarten inspirierenden Rauschen des Ficus major, der im Innenhof mein freundlicher Nachbar ist. Fühlst du, was ich fühle, großer, stummer Bruder Baum?
Ein drittes Mal werde ich meine Schweizer Bank nicht bitten, große Geldsummen zu überweisen, um Grissemann freizukaufen. Dieser Kretin hat es nicht verdient, jemals etwas Anderes als Wasser, Brot und Schläge zu bekommen, wobei man über Wasser und Brot auch noch diskutieren könnte, liebes Tagebuch. Zusammen mit einer erbarmungswürdigen Gruppe oberösterreichischer Sextouristen hat Grissemann mit einem selbstgebauten drei Meter großen rot-weiß-roten Holzphallus die Hörsäle der philosophischen Fakultät der Universität Havanna verwüstet, weil er wütend darüber war, dass es in der Bibliothek nicht sein Lieblingsmagazin St.Pauli Nachrichten gab. Anschließend stieg er mit seiner unmenschlichen Horde aufs Dach der Universität und bewarf Schulkinder mit Erstausgaben von Ernest Hemingway. Das ließ ihn endlich das Gleichgewicht verlieren, und er stürzte durch das Glasdach der Aula, um besinnungslos und Alkohol dampfend auf einer Fidel-Castro-Büste seinen Rausch auszuschlafen. Ich selber, der ich just zu diesem Zeitpunkt in der Aula meine Rede vor kubanischen Intellektuellen halten durfte, sehe mich außerstande, Christoph Grissemann als menschliches Wesen zu akzeptieren. Kann ich unter diesen Umständen wirklich meine Dvořák-Interpretation am Flügel noch meistern, wird mir die Hand nicht zittern, wenn ich mein Querflöten-Kolloquium vor ausgesuchten Mitgliedern der hiesigen Musikakademie halte? Oh, Musen! Drückt mich fest an euren Busen, dass ich meine Tränen der Abscheu in euch betten kann.
Los Angeles
Los Angeles, 13.8.97
Stermanns Erbärmlichkeit macht mich zunehmend fassungsloser. Er ist jetzt aus dem Hotel ausgezogen und lebt in einem Wildschweingehege am Rande der Stadt mit zehn Wildschweinen zusammen, denen er MSV Duisburg-Trikots übergezogen hat. Ich fürchte, er schläft mit einem der Wildschweine. Ich selbst genieße die Auseinandersetzung mit dem politischen Gedicht des 18. Jh., Herwegh, Richter, von Bläuel, ach, wie geben mir eure Zeilen Kraft. Ach ja, Hawking hat mir gratuliert zu meiner Arbeit über die Philosophie der Physik.
Grissemann muss weg, so viel steht fest. Als ich heute eine Pressekonferenz in Pasadenas größtem Glashaus gab – es ging um bedrohte Kulturpflanzen –, donnerte, wie nicht anders zu erwarten, Grissemann durch das Dach und blieb ohnmächtig in einem aztekischen Gummibaum hängen. Ich kann, will und laut meinem Arzt darf ich auch nicht länger über Grissemann nachdenken. Ich selbst bin mit dem Requiem fast fertig, habe Pina Bausch für die neue Produktion »Der grüne Pinsel« abgesagt und werde mich jetzt ans Signieren der Repros machen.
Von Graz bis Innsbruck
Graz, 13.3.2000
Grissemann schläft seit Tagen seinen Rausch aus und steht nur zweimal am Tag auf, um literweise Bier in sich hineinzuschütten. In der Früh hat er eine Interviewerin zu sich gelassen, aber nichts geredet, sondern nur geschlafen. Die arme Frau hat nur Schnarchen auf der Kassette. Das Interview lief trotzdem auf Ö1 , kam angeblich ganz gut an. Die Ö1 -Frau glaubte, in sein Schnarchen eine Kritik an der Buchpreisbindung hineininterpretieren zu können. Nach 30 Minuten fiel er aus dem Bett und schlug dabei mit dem Kopf an die Marmorplatte des Nachttisches. Dieses Geräusch wird heute als Nachrichtengong auf Ö1 verwendet. Durch die Gehirnerschütterung bekam Grissemann einen Brechreiz und übergab sich hektoliterweise in das kleine Handtäschchen der Kulturredakteurin. Das Krokodilledertäschchen mit dem skurrilen Inhalt soll nun beim
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