Speichelfaeden in der Buttermilch
Radio-Eins-Aufkleber!
10.1.2002
Unsere Presseausweise wurden eingezogen und gegen Kundenkarten getauscht. Die Kollegen fahren nur noch Einkaufswagen durch die Redaktionsräume. Chef Lehnert ist sehr zufrieden mit seiner Idee, Werbung auf Radio Eins für die Firmen und Agenturen dadurch interessant zu machen, dass alle Mitarbeiter sämtliche Produkte kaufen, für die auf Radio Eins geworben wird. Die Büchersendung hat alle Bücher aus den Regalen entfernt und stattdessen hunderte von Prospekten eingeordnet. Cheftechniker Redlich überprüft alle Kassenbons und Rechnungen für eingekaufte Waren. Er zieht diese Quittungen ein, damit Radio Eins sie von der Steuer absetzen kann. Der Sender rechnet auf diese Weise mit einer Steuerrückzahlung von mehreren Millionen. Für uns Mitarbeiter ist das eine schwierige Zeit. Während der Arbeit müssen wir zum Sender-Kredithai, nach der Arbeit müssen wir einkaufen gehen und nachts zur Schuldner-Beratung. Das hat doch alles mit Radiomachen gar nichts mehr zu tun.
Ich habe gerade eben eine furchtbare Information bekommen. In der nächsten Woche gibt es 15 Werbespots für Lastkraftwagen und 23 Einschaltungen für Fertigteilhäuser! Das schaff ich nicht. Ich bin vor Cheftechniker Redlich auf die Knie gefallen, dem Handlanger des Chefs, ich habe gefleht, ich habe gejammert! Er hat mir eine Ohrfeige gegeben, aber mir schließlich doch erlaubt, dass ich das Suppengemüse, das im Moment beworben wird, nicht kaufen muss. Ein schwacher Trost nur, aber immerhin.
11.1.2002
Gestern waren Betriebsratswahlen bei Radio Eins. Stimmberechtigt waren der Chef Lehnert und Cheftechniker Redlich. Gewählt wurde Cheftechniker Redlich, weil der Chef sich nicht selbst gewählt hat. Wir anderen Mitarbeiter haben erst kurz nach Schließung der Wahllokale erfahren, worum es überhaupt geht. Stermann und ich waren gerade dabei, eine neue Senkgrube für das Angestellten-Plumpsklo auszuheben, als unser neuer und alter Betriebsratsvorsitzender Redlich uns das Wahlergebnis kundgab. Er zwang uns, unter einer Ohrfeigengewitterandrohung, ihm zu gratulieren. Dann pinkelte er in unsere frische Senkgrube, was wir mit einem »Vielen Dank, Herr Obertonmeister!« quittieren mussten.
Grissemann und ich müssen heute schon den ganzen Tag den hinterhältigen Cheftechniker Redlich mit einer Gewerkschaftssänfte über das Radiogelände tragen. Ich kann kaum mehr, denn neben Redlich sitzt seine neue Flamme, die 150 Kilogramm schwere neue Sekretariatsangestellte Frau Böllermann. Die ist eigentlich untragbar. Er will bei ihr offenbar Eindruck schinden und schindet doch nur uns! Obertonmeister Redlich hält einen orangefarbenen Radio-Eins-Palmenwedel in der Hand. Die jungen Kollegen von Radio Fritz von gegenüber starren die ganze Zeit ungläubig zu uns herüber. Na wartet, ihr kommt auch irgendwann noch zum Erwachsenenradio! Aber es stimmt schon, mit Radiomachen im eigentlichen Sinn hat das alles nichts mehr zu tun.
12.1.2002
Eben war der Betriebsarzt da. Wir haben uns alle wie die Tiere auf die Medikamente gestürzt. Aus Kostengründen wurde ja schon vor Monaten die Kantine geschlossen. Der Betriebsarzt hat versprochen, Karlheinz Böhm von uns zu berichten, vielleicht kann der mal irgendwelche Hilfsgüter abzwacken. Seit sich vor zwölf Tagen ein entkräfteter Kollege bei dem Wort »Bruttosozialproduktsteigerung« fast versprochen hätte, haben wir alle Stubenarrest. Zwölf Tage ohne richtige Nahrung, denn Büroklammern kann man ja wohl kaum als ausgewogene Ernährung bezeichnen! Der Hunger nagt an uns, dieses kleine fette Hundebiest von Cheftechniker Redlich, ein Rauhaardackel. Hat Obertonmeister Redlich ihn »der Hunger« genannt, um sich lustig über uns zu machen? Dieser Köter knabbert jedenfalls ständig an uns herum. »Wahrscheinlich, weil ihr nur noch Haut und Knochen seid!«, hat der Chef gesagt. Stermann, der völlig abgemagert ist, wurde gestern von Cheftechniker Redlich in ein Waldstück geschmissen, und der Hunger lief ihm freudig nach. Mensch, das hat doch alles mit Radiomachen gar nichts mehr zu tun!
Beim Betriebsarzt wurde festgestellt, dass die Waage mehr wiegt als ich. Bei offenem Fenster muss ich ans Mikrofon angebunden werden, um nicht wegzufliegen. Und ich gehöre noch zu den körperlich robusteren Mitarbeitern bei Radio Eins! Nach einem langen Gespräch mit dem Betriebsarzt hat Chef Lehnert zugestimmt, dass für uns die Kantine geöffnet wird. Feierlich entfernte der Chef die schwere Eisenkette
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