Speichelfaeden in der Buttermilch
fahren, die Vorwärtsgänge hat FM4 an einen Autobastler verkauft. Unser Fahrzeug ist Baujahr 1952, hat viele Jahre in einem See gelegen und ist bei der großen Jahrhundertflut im vergangenen Jahr an Land gespült worden, als Esther Czappo und Gerlinde Lang gerade an der Donau standen und Sand aus den Sandsäcken gestohlen haben – weiß der Himmel, was sie mit dem Sand vorhatten. Jedenfalls haben die beiden das tropfende Wrack in die Argentinierstraße gezogen und zusammen mit Thomas Edlinger, der ja eigentlich gelernter Gebrauchtwagenverkäufer ist, wieder »flott« gemacht, wenn man das bei einer Spitzengeschwindigkeit von 7 km/h überhaupt sagen kann. Und mit diesem noch immer nassen Bus fahren wir von FM4- Party zu FM4- Party. Wir werden immer wieder überholt von Kindern auf Stützrädern, die sich über uns lustig machen. You're not at home, baby. You're at work.
Liebes Tagebuch, langsam kann ich's auch schon, die Straßenkarte in Blindenschrift lesen. Eine Sonderanfertigung für Toni, unseren FM4- Fahrer. Als Beifahrer muss immer ich die Karte lesen. Er sagt, er kann nicht gleichzeitig auf die Straße schauen und auf die Karte. Schade, dass die Straße nicht auch in Blindenschrift vor ihm liegt. Anton ist durch einen furchtbaren Tanzunfall vor sieben Jahren blind geworden. Er ist mit den Augen auf eine Plattennadel gefallen. Weil der Unfall bei einem »La Boum de Luxe«-Auswärtsspiel stattfand, hat FM4 ihm aus schlechtem Gewissen den Job als Fahrer gegeben. Na ja, ein bisschen unüberlegt, wenn man mich fragt. Richtig geeignet ist er nicht für den Job, und zwar nicht, weil er blind ist, sondern weil er nicht fahren kann. In all den Jahren, die er jetzt schon den FM4- Bus fährt, hat er noch immer nicht den Unterschied zwischen Gas- und Bremspedal gelernt, er ist rechts/links-Verdreher und rücksichtslos. Also, liebes Tagebuch, falls du den Bus mal irgendwo auf dich zurasen siehst: Be afraid, es ist FM4 .
2.2.
Liebes Tagebuch, gestern hatten wir eine kleine interne Party, Stermann hat seine neue Wohnung eingeweiht. Eine lustige Wohnung: Die Türen kann man nur von außen abschließen, und er hat so eine Art Concierge, sogar mit Uniform und bewaffnet, was in Zeiten wie diesen ja nicht so verkehrt ist. Der abgedrehte Deutsche hat festgelegte Besuchszeiten eingeführt, man kann ihn nicht einfach so überraschen, nur einmal die Woche für zwei Stunden; und offensichtlich aus völlig übertriebener Angst vor Viren und möglicher Ansteckung hat er eine Trennscheibe zwischen sich und dem Besuch. Na ja, ich fand's trotzdem sehr nett. Er wohnt dort in so einer WG , interessanterweise alles Männer. Echte Männer. Woher er die wohl alle kennt? Er teilt sich in diesem riesigen WG -Haus mit einem Typen ein Zimmer, wahrscheinlich weil's billiger ist. Ein 50jähriger Ganzkörpertätowierter, der eine sehr direkte Art hat. Zikmund, Zsutty, Schindler und ich wurden von ihm aufgefordert, mit ihm in die Dusche zu gehen und uns dort nach der Seife zu bücken. Etwas merkwürdig. Stermann selbst hat nicht viel geredet. Er war ganz blass. Na ja, so ein Umzug ist ja doch auch immer stressig. Komisch nur irgendwie, ich hab gar nicht mitbekommen, dass er eine Wohnung sucht.
Liebes Tagebuch, der rote Horst, der gschwinde Fredi und der Hamdraher Petzi kümmern sich sehr liebevoll um mich, weil sie ein gutes Herz haben und all meine Zigaretten und mein ganzes Geld bekommen. Ich wüsste nicht, was ich ohne die drei machen würde. Ich bin noch ganz verwirrt, alles ging so schnell. Ich hab ihn wirklich nicht gesehen, mein Gott, wenn ich ihn gesehen hätte, hätte ich das doch nie gemacht. Es war in der Kantine, ich hatte wirklich großen Hunger, weil ich als freier Mitarbeiter ja nur einmal im Monat berechtigt bin, etwas zu essen. Ich stell mich also mit meinem Tablett an die Theke – mein Magen knurrte so laut, dass ich schreiend bestellen musste – und plötzlich steht Chefcontroller Blumenau neben mir und behauptet, ich hätte mich vorgedrängelt. Ich durfte mich nicht nicht verteidigen. Sofort kam ein Sicherheitsbeamter, fünf Minuten später saß ich in einem Schnellverfahren vor einem sehr unordentlich wirkenden Gericht, nicht mal eine Stunde nach meiner Essensbestellung saß ich hier und bückte mich immer und immer wieder nach der Seife meines Zellengenossen. Er sitzt schon seit zehn Jahren und kam mir gleich bekannt vor. Er hat auch früher beim Radio gearbeitet, bei Ö3 , als Redakteur von Dominic Heinzl. Sein
Weitere Kostenlose Bücher