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Spektrum

Spektrum

Titel: Spektrum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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flammenden Vorhang aus. Der Stein unter seinen Füßen glühte, war geborsten.
    »Ein schwarzer Gang in die Hölle …«, flüsterte Irina an seiner Schulter.
    Um den Brunnen drängten sich Schealier. Mit dem Rücken zum Abhang standen sie dort, diese Wesen mit seltsam rot und schwarz gefärbten Federn. Als Martin genauer hinsah, bemerkte er, dass sie alle blind und ihre Augen vor langer, langer Zeit ausgehackt oder ausgebrannt worden waren.
    »Das sind die Geistlichen des Tempels«, erklärte Ira. »Ich bin noch nicht hier gewesen, habe aber einiges in Erfahrung gebracht …«
    »Und die …« Martin beendete den Satz nicht, sondern nickte in Richtung einiger Paare, die wie in Trance um den Brunnen tanzten. Jedes Pärchen bestand aus einem Erwachsenen und einem Vogelkind.
    »Das sind die Vogelkinder, die reif genug sind, um ihren Verstand aufzugeben. Ihre Eltern oder ältere Freunde geleiten sie ins Erwachsenenleben …«
    Das Mädchen wandte sich Martin zu. »Das ist der letzte Ritus«, gestikulierte sie. »Gehen wir. Solange es geht, werde ich dolmetschen. Du wirst alles verstehen.«
    Martin und Irina folgten dem Mädchen in der Prozession um den Brunnen herum. Der erste Geistliche stockte kurz, bevor seine Flügel einige Worte in schealischer Gebärdensprache umrissen. Vermutlich hatte der Blinde in den Schritten von Martin und Irina etwas Fremdes gespürt. Das Mädchen zwitscherte jedoch laut und fordernd, worauf die Flügel des Geistlichen durch die Luft fuchtelten.
    »Die unschuldig Geborenen … die sich der Vorbestimmung entziehen … sich dem Himmel unterwerfen … den Lauf der Zeit erkennen … Wort und Tat teilen … ins Morgen blicken … die Gesetze schauen …«
    Die Flügel des Mädchens bewegten sich so schnell, dass Martin die Worte kaum zu dechiffrieren vermochte. Gleichwohl konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, das Mädchen schaffe es noch immer nicht, alles zu übersetzen, beinhalteten die Gesten des Geistlichen doch nicht nur Buchstaben oder Hieroglyphen, sondern auch ganze Sinneinheiten …
    Der zweite Priester bewegte die Flügel bereits ohne jedes Zögern: »Die das Gute und das Böse erkennen … die Ruhe verlieren … danach trachten, das Unfassbare zu fassen … Erde und Wasser verändern … Leben und Tod zu teilen … werden nicht glücklich …«
    »Etwas in der Art habe ich in unseren Werken auch schon gelesen …«, murmelte Martin, wenn auch einzig aus dem Grund, den einlullenden Singsang zu durchbrechen.
    »Jeder Verstand kommt zu ähnlichen Schlussfolgerungen«, antwortete Irina leise.
    »Jahrtausende von Schmerz und Blut … Suche und Niederlage … dem Sein nachjagend … der Sinn des Sinns … in Angst und Trauer … die schwachen Flügel des Sturms … wer das Leben erkennt, erkennt den Tod …«
    Unversehens und mit überraschend kaltem Gleichmut schoss Martin der Gedanke durch den Kopf, dass Adam und Eva, als sie vom Baum der Erkenntnis aßen, durchaus nicht sterblich wurden. Sie begriffen lediglich, dass sie sterblich sind. Sie begriffen es, weil sie sich genau in diesem Moment ihren Verstand aneigneten. Sie tauschten die ewige paradiesische Sorglosigkeit gegen die vergänglichen Qualen des Verstandes.
    Wer hat behauptet, die Früchte vom Baum der Erkenntnis seien süß? Der Teufel? Der ist ohnehin ein bekannter Lügner. Der Saft des Apfels von Eden schmeckt bitter wie Chinin und schneidet wie spitze Glasscherben. Derjenige, dessen Lippen er berührt, vermag die verbotene Frucht nicht mehr fortzuwerfen. Der weint wie ein Tier, das eine blutige Schneide beleckt. Der weint, während er sich am eigenen Blut verschluckt – und weiter die todbringende Klinge beleckt.
    Ebenso wird sich jedes Wesen seiner Sterblichkeit bewusst, indem es in die bittere Frucht der Erkenntnis beißt. Es wird sich bewusst – und lebt fortan mit diesem Wissen, ohne die Kraft, nach der süßen Frucht vom Baum des Lebens zu greifen. Immer bleibt einem die Möglichkeit, dem Leben zu entsagen, aber nie hat man die Möglichkeit, dem Verstand zu entsagen. Man kann ihn im Alkohol ertränken, ihn mit Drogen betäuben, verrückt werden oder das Nirwana erlangen. Einzig die Schealier haben einen endgültigen Ausweg gefunden. Einzig die Schealier können die ungebetene Gabe erbrechen, sie den grausamen Göttern vor die Füße spucken.
    Die Schealier wiesen den Verstand zurück, weil dieser das Wissen um den Tod in sich trug.
    Die Schealier wählten die Ruhe.
    Die Schealier wollten nicht leiden.
    Die

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