Spektrum
Schealier wurden glücklich.
Nur die Kinder fürchten den Tod nicht, denn sie glauben, sie würden ewig leben. Nur die Kinder und die Irren.
Die Schealier verzichteten auf den Verstand – und das war die Wahl, die sie trafen.
»Ich weise die Gedanken an Hohes zurück … verleugne die Zweifel … werde glücklich … Immer … immer … immer …«
»Sie entgleitet!«, schrie Irina und packte Martin bei der Hand. »Martin, es wirkt auf sie!«
Das schealische Mädchen hatte sich in der Tat verändert. Seine Bewegungen wurden fließend, es fiel in Trance und schien kaum mehr zu begreifen, wer um sie herum war und warum sie um den Feuer speienden Schlund ging. Das Mädchen tanzte, bewegte sich an den murmelnden Priestern vorbei, ihre Augen erstarrten, eine unergründliche Leere erfüllte sie, gebildet von den Zungen der purpurroten Flamme in den schwarzen Tiefen der Pupille.
»Das ist ihr gutes Recht«, sagte Martin. »Keine Angst, auf uns wirkt es nicht. Damit muss man geboren werden und leben … darauf vorbereitet sein, davon träumen, daran glauben … an das Glück ohne Verstand …«
Das Mädchen tanzte. Ihre Flügel schlugen hoch und klappten herunter, sie hüpfte an den Priestern vorbei, deren Sprechgesang in ein gesungenes Murmeln überging. Fiel ein Priester ein, begleitete er zunächst seine Vorgänger. Sie alle spielten einander die Worte zu. Ihre Stimmen schwangen sich auf in den schwarzen Himmel, an dem die Flamme des Kraters jeden Stern ausgeblasen hatte, und die dünne Stimme des Mädchen verschmolz mit dem jubilierenden Chor.
»Für immer! Für immer! Für immer! Werd ich leben! Werd ich leben! Werd ich leben! Denken ist böse! Denken tut weh! Denken macht Angst! Für immer! Für immer! Für immer …«
Martin sah Irina an. Die junge Frau weinte, den Blick unverwandt auf das tanzende Vogelkind gerichtet.
»Sie hat sich selbst so entschieden!«, schrie Martin. »Misch dich da nicht ein! Sie wird glücklich sein!«
»Tu doch was!«, schrie Irina. »Irgendwas! Das ist nicht richtig, das ist eine Falle, das ist eine Lüge! Das ist der Tod! Halte sie auf!«
Inzwischen waren sie bereits einmal im Kreis um den Brunnen getanzt. Der letzte Priester außerhalb des Kreises rief jubelnd und freudig etwas, das das Mädchen schreiend beantwortete. Es breitete die Flügel aus, was aussah, als bitte sie um Aufmerksamkeit. Doch sie kommunizierte schon nicht mehr. Mit triumphierendem Gesang umrundete das schealische Mädchen den Priester und machte einen Schritt auf den Krater zu.
Noch bevor Martin etwas begriff, reagierte sein Körper. Er schoss nach vorn und schubste den Priester, der sich ihm in den Weg zu stellen versuchte, zur Seite. Seine Finger glitten über die Federn des Mädchens, schafften es jedoch nicht mehr, das Kind zu packen.
Mit ausgebreiteten Flügeln fiel die kleine Figur in die grollenden Flammen hinein.
Und Martin folgte ihr.
Unversehens fehlte der Stein unter seinen Füßen, schlug ihm warmer Wind ins Gesicht, der sich aufheizte und in Flammenzungen verwandelte. Das Feuer beleckte seinen Körper – und hastete weiter nach oben.
Martin und das Mädchen fielen in den sich erweiternden Steinschacht. Über ihnen heulten die sich entfernenden Flammen, unter ihnen pulsierte dumpf das purpurrote Dunkel. Martin ordnete sich neu, denn für sein Bewusstsein war jetzt kein Platz mehr, gleichsam als hätten die Priester ihm mit ihrem Rezitativ den Verstand ausgetrieben. Ihm blieben nur die Instinkte, die Erfahrung, die er als Jugendlicher mit ein paar Fallschirmsprüngen gemacht hatte. Doch gehorsam schoss sein Körper auf das fallende Mädchen zu.
Der heiße Wind peitschte ihm ins Gesicht. Martin flog an dem Mädchen vorbei, breitete die Arme aus, ließ sich rücklings vom Luftstrom tragen. Seinen Taschen entfielen allerlei Kleinigkeiten. Das Mädchen schoss auf ihn zu, hilflos, starr, mit vom Rücken abstehenden, gebrochen wirkenden Flügeln. Dann irrte ein glasiger Blick über Martin, und das Vogelkind schlug mit den Flügeln – als gewahre es erst in diesem Moment die feurige Untiefe, in die sie beide fielen.
»Flieg!«, schrie Martin auf Touristisch, in der Hoffnung, das Mädchen möge, wenn schon nicht die Worte, so doch die Intonation verstehen. »Du kannst fliegen, also flieg! Du kannst fliegen!«
Das Mädchen schlug mit den Flügeln. Etwas trug es nach oben. Martin drehte sich um und sah in das Feuerauge, das näher und näher kam.
Was war das? Ein Vorhang, gleich dem, durch den
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