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Spektrum

Spektrum

Titel: Spektrum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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sie oben gefallen waren?
    Was erwartete ihn dahinter?
    Stein?
    Die Schealier konnten nicht fliegen. Nicht einmal die Vogelkinder.
    Martin breitete die Arme aus. Er zerriss das Hemd in dem Versuch, zwischen Körper und Armen eine Art Flügel zu spannen.
    Das Hemd riss, sein Körper strudelte, der Feuersturm beleckte ihm das Gesicht – und war dann über ihm.
    Martin indes fiel und fiel, fiel in einen heulenden Luftstrom, in den Auspuff einer gigantischen Turbine, in eine laufende aerodynamische Röhre. So verlangsamte sich sein Fall mehr und mehr, bis die Dunkelheit ihn in einem elastischen geschmeidigen Netz einfing, sich unter ihm bog, ihn hochschleuderte und seinem ganzen Körper eine Ohrfeige verabreichte, die sich gewaschen hatte. Martin wurde auf die Seite geschleudert, hinein in ein mattes rotes Licht, hinein in ein spiralförmiges, wirbelndes Loch.
     
    Das schealische Mädchen streichelte ihm mit ihrem weichen Flügel übers Gesicht. Martin sah sie lange an, bevor er versuchte, sich aufzusetzen. Sein ganzer Körper schmerzte, sein Kopf schwirrte, doch er lebte und schien sich keinen Knochen gebrochen zu haben.
    »Du lebst«, gestikulierte das Mädchen. »Ich habe schon befürchtet, du würdest zerschellen. Der Wind der Begegnung sollte einen Erwachsenen tragen können, aber du bist schwerer als unsere Erwachsenen.«
    Sie befanden sich in einer kleinen Kammer mit weichem Boden. An der Wand war das runde Auge des Tunnels zu erkennen, durch den Martin und das Mädchen gerutscht waren, gegenüber gab es eine runde Tür.
    »Du hast Angst gehabt?«, fragte Martin. Es war höchst unbequem, im Sitzen zu gestikulieren. Er getraute sich jedoch noch nicht aufzustehen. »Jetzt brauchst du keine Angst mehr zu haben.«
    »Warum bist du mir nachgesprungen?«, fragte das Mädchen. »Wolltest du auch deinen Verstand aufgeben?«
    »Nein.«
    »Warum dann?«
    »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.«
    »Das ist dumm«, erklärte das Mädchen. »Das Feuer ist schwach, es kann uns keinen Schaden zufügen. Der Wind der Begegnung bläst vom Boden aus nach oben, er bremst unseren Fall. Ich hätte weich fallen müssen – und keinen Verstand mehr haben dürfen.«
    »Und das hat nicht geklappt?«, wollte Martin wissen.
    »Nein.«
    »Entschuldige.«
    Das Mädchen schmiegte sich an ihn. Der gefiederte Körper roch gut nach Kopfkissen und irgendwie nach Honig, wie bei einem frisch gewaschenen Welpen.
    »Ich bedaure nichts«, sagte das Mädchen. Ihre Stimme klang angespannt, bei der Betonung unterliefen ihr Fehler, sie legte sie ausnahmslos auf die erste Silbe, aber sie sprach auf Touristisch.
    »Was wird jetzt?«, fragte Martin.
    »Ich weiß es nicht«, antwortete das Mädchen. »Es ist so dumm, intelligent zu sein! Überhaupt nichts weißt du im Voraus.«
    »Das stimmt«, bestätigte Martin. »Hilf mir mal, meine Kleine.«
    Ihm schwindelte, Brechreiz würgte ihn. Doch indem er sich auf die schmale Schulter stützte, schaffte er es, sich zur Tür zu begeben.
    Zusammen mit dem Mädchen trat er in einen großen Gewölbesaal hinaus, in dem sich schealische Priester drängten. Es trafen immer mehr und mehr ein, die aus schmalen Höhlen in den Wänden krochen, von kleinen Balkons sprangen und aus Gängen kamen – schweigende, mit den Federn knisternde Figuren, die sich so behände bewegten, als beeinträchtigte sie ihre Blindheit in keiner Weise. Das matte Licht der Gasfackeln unter der Decke erlaubte es nicht, ihre Zahl zu beziffern. Hunderte? Wohl eher Tausende …
    Martin bedauerte nur, die Thermowaffe im Hotel gelassen zu haben.
    »Keine Angst«, beruhigte ihn das Mädchen. »Sie sind nur erschrocken …«
    Der gefiederte Körper schlüpfte unter seiner Hand hinweg und trat vor. Martin schwankte, fiel jedoch nicht hin.
    Das Mädchen fing zu sprechen an. Sobald sie die ersten Worte gesagt hatte, senkte sich im Saal Stille herab. Diejenigen, die sich noch keinen Zutritt verschafft hatten, verharrten an der Schwelle.
    Das Mädchen sprach – und Martin bemerkte verwundert, dass ihrer Stimme nunmehr jede Kindlichkeit fehlte. Sie erklärte nichts und sie bat um nichts. Sie befahl.
    Die Priester legten sich nieder. Allein das Mädchen stand noch und ließ den Blick langsam durch den Raum schweifen.
    Martin ließ sich aufs Knie sinken. Das Mädchen sah ihn an und lächelte.
    »Du darfst aufstehen«, sagte sie.
    Während er noch darüber nachdachte, dass er zwar aufstehen dürfe, jedoch nicht stehen könne, erhob sich Martin. Die schwarz-roten

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