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Spektrum

Spektrum

Titel: Spektrum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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Figuren krochen über den Boden. Die krampfhaften Bewegungen ließen die felsenfeste Sicherheit des Instinkts vermissen, deuteten einzig auf einen erschütterten Verstand.
    »Du bist mein Schwarm«, sagte das Mädchen. »Aber jetzt muss ich hier blieben. Gib mich frei, Martin, oder bleibe bei uns.«
    »Ich gebe dich frei«, antwortete Martin. »Dies ist dein Schwarm und deine Welt. Lehre ihn fliegen.«
    Er holte aus seiner Tasche das »Dokument für das Vogeljunge«. Erstaunlich – er hatte es im Fallen nicht verloren. Sodann zerriss er es in Fetzen.
    Das Mädchen trat an ihn heran und schloss ihn in ihre Flügelarme. »Ich habe dich sehr lieb«, flüsterte sie. »Vielen Dank, Martin. Du willst ganz bestimmt nicht bleiben?«
    »Ganz bestimmt nicht«, wisperte Martin.
    »Wird es schwer für mich werden?«, fragte das Mädchen.
    »Bestimmt.«
    Das Mädchen nickte. Dann nahm sie Martin bei der Hand, um ihn an den aufgewühlten Priestern vorbeizuführen.
     
    Seltsamerweise fuhr der Autobus noch. Sie warteten an der Haltestelle, Martin, Irina und das schealische Mädchen, um das sich ein Ring von Beschützern gebildet hatte. Letztere trugen alle eine funkelnde Waffe in jeder ihrer vier Hände. Und bei den Klingen handelte es sich keineswegs um Ritualdolche.
    »Der Fahrer besitzt noch keinen Verstand«, konstatierte das Mädchen, als am Ende der Straße endlich der gemächlich dahinzuckelnde Bus auftauchte. »Ist vielleicht besser so. Er wird euch bringen. So gibt es weniger Probleme.«
    Martin schielte zu den Wachtposten hinüber. Bei keinem lag im Blick kalte Ruhe. Eher loderte dort das Feuer fanatischer Ergebenheit. Die schwarz-roten Federn verrieten die Priester unter ihnen, welche jedoch sehend waren. Vermutlich handelte es sich dabei um Novizen, die noch keine endgültige Erleuchtung erfahren hatten …
    »Wird man dich angreifen?«, fragte Martin.
    »Vielleicht«, antwortete das Mädchen lakonisch. »Es wird noch viel Lärm geben … Feuer und Blut.«
    »Das wollte ich nicht«, versicherte Martin. »Verzeih mir.«
    »Es ist in Ordnung«, beruhigte ihn das Mädchen. »So sollte es kommen – und nun ist es eingetroffen. ›Der flügellose Fremdling tritt ins Bodenlose, damit das Mädchen seines Schwarms den Verstand bewahrt …‹ Wer hätte geahnt, dass es einmal tatsächlich geschehen würde? Woher hätte ein flügelloser Fremdling einen Schwarm haben sollen?«
    »Darum geht es also …«, sagte Martin gedehnt. »Ich habe immer davon geträumt, Held einer Prophezeiung zu werden. Ist es wirklich so vorhergesagt?«
    »Hm …« Das Mädchen zögerte. »Diese Prophezeiungen sind immer zweideutig … im Grunde könnte ein ›Fremder, der nicht fliegen kann‹ auch jeder ausländische erwachsene Schealier sein. Und das ›Kind seines Schwarms‹ hielt man eher für einen Jungen als für ein Mädchen. Zumindest hat man es früher so interpretiert. Jetzt muss man diese Dinge noch einmal überdenken. Ich habe das bereits angeordnet.«
    Unwillkürlich musste Martin lächeln. »Verstehe. Damit kann ich es mir wohl sparen, dir gute Wünsche mit auf den Weg zu geben. Du kommst bestens selbst mit allem zurecht.«
    »Ich bin ein sehr intelligentes Mädchen«, sagte das Vogelkind.
    Der Autobus hielt. Mit leeren Augen sah der Fahrer Martin an. »Grüß dich«, gestikulierte er. »Fährst du mit uns?«
    »Grüß dich. Ja, wir fahren mit«, antwortete Martin.
    Anschließend berührte er zum Abschied den Flügel des Mädchens. Eigentlich wollte er ihr den lustigen gelben Schopf zerzausen, doch angesichts der zornigen Blicke der Wachtposten verzichtete er lieber darauf.
    Ratternd zuckelte der Bus die Straße hinunter. Mit tadelndem Blick sah Martin zu Irina hinüber, die daraufhin wegschaute.
    »Du hast es gewusst«, sagte Martin.
    »Ja. Ich habe aber gedacht, der ›Fremde, der nicht fliegen kann‹ sei ich. Das ist die Krux mit diesen Prophezeiungen. Alles ist vage, unverständlich, vermischt …«
    Martin schüttelte den Kopf. Er wollte nicht schimpfen. Sein ganzer Körper schmerzte. Langsam fuhr der Autobus zur Station, die von einer Verstandepidemie erfasste Stadt hinter sich zurücklassend.
    »Intelligente Schealier …«, flüsterte Irina ergriffen. »Was jetzt wohl passiert?«
    »Juri Sergejewitsch wird mir den Kopf abreißen«, erklärte Martin. »An die Stelle der ruhigen, genügsamen Schealier wird eine energische junge Rasse treten. Noch dazu aus heiterem Himmel … Und du brauchst gar nicht zu lachen, du wirst auch

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