Spektrum
ich noch am Leben sein sollte, und sagst: Onkel, du hast recht gehabt …«
Auf die Waffe gestützt, erhob Martin sich. In seiner Seele herrschten Leere und Bitternis.
»Hier gibt es kein Telefon, Onkel«, flüsterte er. »Aber du hattest recht.«
Er strich seine Sachen glatt. Die Waffe knüpfte er gleich einem Degen an den Gürtel, dank dem kurzen Lauf sah das sogar ganz natürlich aus.
Die Schließer zeigten sich nicht. Niemand zeigte sich. Man ignorierte Martin aufs Entschiedenste.
Als er den Gang hinunterging, spähte er in alle Zimmer. Er entdeckte zwei konzentrierte Dio-Daos, die in ein Gespräch vertieft waren, sowie ein paar Humanoide einer ihm unbekannten Rasse, die Martin mit einer solchen Furcht ansahen, dass er es vorzog, weiterzugehen und die touristischen Neulinge nicht zu verschrecken.
Erst auf der Veranda, als er bereits die milde, berauschende Luft Talismans einatmete, entdeckte Martin einen Schließer.
Einen einzigen.
Einen alten buckligen Schließer, dessen linke Hand in einem fingerlosen Stumpf endete. Zum ersten Mal begegnete Martin einem Schließer, der Invalide war.
Der Schließer wartete auf Martin.
Sein Zorn war bereits verraucht, hatte sich in Schmerz und tiefe Verletzung verwandelt. Martin trat an den Schließer heran und sah ihm in die Augen. »Weshalb?«, fragte er.
Der Schließer schwieg. Halbblind blinzelte er, während er den Menschen betrachtete.
»Wenn ihr Irina nicht habt retten können …«, flüsterte Martin. »Wenn ihr wusstet, dass sie verschwindet …«
»Wir sind keine Götter«, sagte der Schließer. »Selbst wenn wir weiter blicken können, heißt das noch lange nicht, dass wir alles sehen.«
»Antwortest du mir etwa?«, fragte Martin. »Was ist, Schließer? Sprichst du mit mir? Vertreibst du meine Einsamkeit und meine Trauer?«
Doch der Schließer hüllte sich in Schweigen.
»Was seht ihr in mir?«, fragte Martin. »Was seht ihr in der Menschheit? Was fürchtet ihr? Wohin strebt ihr?«
»Talisman wartet auf dich«, sagte der Schließer.
»Wenn ich herausbekomme, wie ich euch vernichten kann«, fuhr Martin fort, »dann werde ich euch vernichten. Das ist eine Drohung.«
»So bekomme es heraus«, erwiderte der Schließer nur.
Dann war er verschwunden.
Martin wandte sich zur Verandatreppe um.
Zu dem weißen Schaum der Wolken, welche die Stufen hinauf zur Station beleckten.
Wolken, die über schwarze, spiegelnde Felsen krochen, die wie vereinzelte Eisberge aus der weißen Ebene herausragten. Weiße Wolken unter einem violetten Himmel, der mit einer winzigen, weißglühenden Sonne über dem Planeten angenagelt war.
All das erinnerte an einen Zeichentrickfilm für Kinder, in dem man durch die Wolken laufen, in der elastischen Watte Purzelbäume schlagen und Schneebälle aus Dampf formen konnte. Martin wusste, dass es keine Märchen gab, dass die Wolken auf Talisman nicht das vermochten, was die seltsame Substanz auf Bessar schaffte – den menschlichen Körper zu tragen.
Trotzdem hielt er die Luft an, kaum dass er einen Fuß in den dichten weißen Nebel setzte – als erwarte er, die Wolken würden sein Gewicht aushalten.
Wie es sich für ordentlichen Nebel gehörte, löste er sich auf.
Als Martin die Verandatreppe hinunterging, spürte er unter seinen Füßen die üblichen Stufen. Der Nebel stieg höher und höher, reichte Martin schließlich bis zum Kinn. Einen Moment blieb er stehen. Um ihn herum erstreckte sich ein hügeliges weißes Feld, das langsam dahinkroch, den Winden gehorchend. Der blendende Punkt der Sonne sengte ihm den Scheitel. In seinem Blickfeld machte er nicht weniger als ein Dutzend Felsen aus, deren höchster hundert Meter über die Wolken hinausragte. In den mosaikartigen schwarzen Spiegeln zeichnete sich die Station mit dem nervtötend blinkenden Leuchtturm ab.
Die Station war ungewöhnlich und sehr schön, einem kleinen Schloss aus schwarzem Stein vergleichbar, das mit weißen Dachziegeln gedeckt war.
Man konnte sagen, was man wollte: Die Schließer verfügten über einen exzellenten Geschmack.
Wie glücklich Martin gewesen wäre, stünde Irina jetzt neben ihm! Wie er es genossen hätte, mit ihr herumzualbern, sich gegenseitig zu fotografieren, wie sie bis zur Kehle in wolkiger Milch standen, sich vorzustellen, sie gingen tatsächlich über Wolken und fänden eine interessante Perspektive, zum Beispiel das Abbild der Station an einem Spiegelfelsen. Wie schauerlich und dennoch süß wäre es, gemeinsam durch den Schaum der
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