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Spektrum

Spektrum

Titel: Spektrum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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völlig intaktes Stück weggeschmissen hast?«, entgegnete Andrej. »Eine Uhr … einen Ring … eine Batterie …«
    »Da hast du recht.« Martin nickte.
    »Siehst du! Und warum er nicht vor Ort verfällt … Vielleicht sind die Reinheitsfanatiker. Vielleicht wollen die ihren Müll nicht zuhause verbrennen. Und homogen ist der Müll, weil sie den Großteil recyceln und nur wirklichen Mist wegwerfen …«
    »Bravo«, sagte Martin. »Schreib doch mal einen Artikel für den Digest für Reisende darüber.«
    »Das habe ich vor«, erwiderte der andere bescheiden. Als der Timer erneut piepte, machte er sich daran, den Safe zu öffnen. Diesmal wagte Martin es, ihm zu helfen – und der Goldgräber widersetzte sich nicht. Sie bewegten den schweren Deckel und fanden in der eben noch jungfräulich reinen Vertiefung eine Handvoll Purpurstaub.
    »Ein guter Tag!«, freute sich der Mann. »Die bringen garantiert zweihundert Euro!«
    Er holte aus seinem Rucksack ein Glasgefäß, eine kleine Schippe und einen Pinsel. »Also«, meinte er, indem er zu Martin hinüberschielte, »laut meiner Version handelt es sich bei Purpurstaub um die Exkremente von Außerirdischen.«
    »Dann behandelst du also deinen Schnupfen nicht damit?«, hakte Martin nach.
    »Doch«, erwiderte der Mann, der den Staub peinlich genau aufnahm.
    »Viel Glück noch«, wünschte Martin ihm. »Ich werd’ dann mal … Wo übernachte ich am besten?«
    »Im Gasthaus Zum krepierten Pony«, antwortete der Goldgräber lakonisch.
    Martin grunzte. Er nickte noch einmal, dann marschierte er auf die Lichter der Siedlung zu. Als er schon ein ganzes Stück gegangen war, rief er Andrej noch etwas zu: »Hör mal, das Mädchen, das den Schlüssel gefunden hat – wie heißt es?«
    »Ha! Und du willst mir weismachen, du interessierst dich nur für Bücher und nicht für den Zaster …«, feixte der Mann. »Irina heißt sie!«
    »Alles klar«, erwiderte Martin.
    »Sie wollte den Schlüssel aber nicht verkaufen, da beißt du auf Granit …«, klang es Martin aus dem Nebel nach.
    Er antwortete nicht mehr, denn er lief schon über den schwarzen Stein auf die Lichter des Dorfs zu. Ab und an rutschte er auf glatten Stellen aus, einmal fiel er sogar und schlitterte über den Stein, dabei das verzerrte Abbild seines Gesichts in dem schwarzen Spiegel bewundernd.
    Schließlich gelangte er zu einem der kleinen Elektrizitätswerke der Siedlung. Mit einem symbolischen niedrigen Zaun umsäumt, ragten aus dem Felsen ein Dutzend Metallstäbe, die schräg in den Stein getrieben waren. Die Stangen waren paarweise mit einer Schaltung verbunden, zur Siedlung führte dann ein dickes, gut isoliertes Kabel hinunter.
    Die Elektrizität war auf Talisman allgegenwärtig. Man brauchte nur ein wenig zu bohren und zwei Punkte mit einer günstigen Potenzialdifferenz zu entdecken. Nach und nach gab das geheimnisvolle Elektrizitätswerk den Geist auf, doch für ein halbes Jahr oder ein Jährchen reichte es auf alle Fälle.
    Martin folgte dem Kabel und gelangte schon bald zur Peripherie von Amulett. Man brauchte nicht lange darüber zu grübeln, warum die Siedlung ausgerechnet an diesem Ort entstanden war, denn hier floss ein flacher, breiter Fluss. Aus dem ruhigen, träge dahinplätschernden Wasser ragten gedrungene Bäume auf, die Quelle für Nahrung und Baumaterial. Ein Alter mit einer geschulterten Waffe saß am Ufer und behielt die Gegend im Auge. Martin bedachte er mit einem freundlichen Blick, der gleichwohl eine gewisse professionelle Aufmerksamkeit nicht missen ließ.
    Martin winkte ihm zu. Er hatte nicht die Absicht, sich am öffentlichen – möglicherweise aber auch privaten – Eigentum zu vergreifen.
    Er brauchte Irina.
    Er brauchte den Schlüssel zu den Geheimnissen von Talisman.

Eins
     
    Gedeckte Töne liebte man hier nicht. Der opaleszente weiße Nebel schluckte ohnehin jede Farbe. Rot verwandelte er in Rosa, Ultramarin in Türkis, Khaki in Oliv, Zimtbraun in die Farbe der ersten Sonnenbräune.
    Jedes noch so kleine Häuschen im Dorf focht seinen Kampf gegen das allgegenwärtige Pastell und kleidete sich in schreiende Farben. Es musste nicht nur Himbeerrot sein, sondern dieses galt es auch noch glänzend zu polieren, bis es wie frisches Blut glitzerte. Das Azur hatte klirrend wie der Morgenhimmel über dem Mittelmeer zu sein, das Grün satt und minzig. Wählte man Dunkelblau, dann ein echtes Indigo, jenes, das auf Englisch royal blue heißt und das in Russland seit den Zeiten der

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