Spektrum
bolschewistischen Revolution überhaupt nicht mehr beim Namen genannt wird.
Selbst die cremefarbenen Mauern der Schenke Zum krepierten Pony zeigten sich in einem Ton, der die bescheidene Pastellfarbe in eine intensive, über alles triumphierende Sahneexplosion verwandelte, in ein verzaubertes Häuschen aus gekochter Kondensmilch, das die Brüder Grimm ersonnen hätten, falls sie in der Sowjetunion geboren worden wären.
Erst jetzt fiel Martin wieder ein, dass Färbemittel eine der besten Handelswaren für Talisman waren. Jetzt wusste er auch, weshalb.
Am Eingang vom Krepierten Pony stand, angetan mit einem kurzen kornblumenblauen Kleid, Irina Poluschkina.
Einen Schritt vor ihr blieb Martin stehen. Er schwieg, denn Worte waren nicht nötig.
Langsam, fast wie im Traum, trat Irina an ihn heran – und schmiegte sich gegen seine Brust.
»Jetzt gehen wir nirgendwo mehr hin«, flüsterte Martin, während er sein Gesicht in ihr Haar wühlte. »Hörst du, Irinka? Nirgendwohin gehen wir. Wir bleiben auf Talisman. Für immer. Du und ich. Hörst du?«
Die Worte versanken im Nebel. Die raschelnden Schatten von Gästen waberten an ihnen vorbei, hinter der geschlossenen Schenkentür ließ sich leise eine unbekannte Musik vernehmen. Irina drückte und umarmte Martin noch immer, gleichsam als fehlte ihr die Kraft, sich von ihm loszureißen und ihrem glücklosen Retter und Geliebten in die Augen zu sehen.
»Wie?«, flüsterte sie am Ende doch.
»Du bist einfach verschwunden«, antwortete Martin. »Du warst in der Station auf Scheali. In der Station auf Talisman warst du dann nicht mehr.«
Endlich hatte er sich dazu durchgedrungen, Irinas Hand zu ergreifen.
Sie war warm und lebendig.
Wie immer.
»Das wusste ich seit Langem«, sagte Irina. »Schon nach … nach Prärie habe ich so was geahnt. Dann habe ich noch mit jemandem gesprochen … danach war mir klar, wie es endet. Deshalb bin ich auch hier geblieben und habe gewartet …«
»Auf mich?«, fragte Martin.
»Anfangs auf den Sensenmann«, erwiderte Irina gelassen. »Dann auf dich.«
Sie löste ihr Gesicht von Martins Brust. Ihre Blicke begegneten sich.
In Irinas Augen standen keine Tränen, sie blickte gelassen drein.
»Ich glaube, ich bin sein Bote«, flüsterte Martin.
»Nein.« Irina schüttelte den Kopf. »Du bist sein Nebenbuhler. Nur hat noch kein Mensch diesen Kampf gewonnen. Gehen wir, Martin.«
Sanft zog sie ihn zur Tür des Krepierten Ponys.
»Irina …«, sagte Martin.
Die Frau legte einen Finger an die Lippen. »Pst«, flüsterte sie. »Das kommt später. Alles kommt später.«
Dann lächelte sie.
In diesem Moment begriff Martin mit der Klarheit eines zum Tode Verurteilten, dass er sich niemals würde mit dieser Irina Poluschkina streiten können, der letzten und wahrhaftigen. Dass seine Worte: »Wir bleiben auf Talisman« keine hohlen Worten waren, sondern dass er sie in der Tat nicht verlassen konnte.
Und dass er ohne diese Frau nicht länger leben konnte.
Daher sagte Martin kein Wort, rückte die Thermowaffe in eine bequemere Position und folgte Irina in die Schenke Zum krepierten Pony.
Es gab in der Tat ein Pony. Es stand auf einem Steinsockel neben einem wuchtigen Kamin und blickte die Gäste traurig mit Glasaugen an. Das kurze Fell wirkte zwar irgendwie abgegriffen, als hätten es angetrunkene Weltenbummler liebevoll berührt, im Großen und Ganzen machte das ausgestopfte Tier jedoch einen guten Eindruck.
»Warum ein Pony?«, fragte Martin, während er Irina an einen Tisch in der hinteren Ecke folgte. Obwohl es nur wenige Besucher gab, legte Irina offensichtlich Wert darauf, einen möglichst abgeschiedenen Platz zu wählen. Bis in die Schenke war der allgegenwärtige Nebelflor nicht vorgedrungen, was zu einer gewissen Verkrampfung führte, denn plötzlich fühlte man sich nackt und schutzlos. »Warum hat man das arme Tier hierhergeschleppt?«
»Als Lasttier«, antwortete Irina finster. Auch ihr schien das Pferd leidzutun, das auf einem fremden Planeten umgekommen war.
»Und woran ist es gestorben?«
»Es ist einfach hierhergebracht worden und dann gestorben«, antwortete Irina gedankenverloren. »Weißt du, wie es hieß? Frodo!«
Martin nickte. Etwas in der Art hatte er erwartet.
Der Wirt vom Krepierten Pony stellte sich als kleiner, trauriger Mann heraus, einer gelungenen, wiewohl handlichen Kopie eines Skandinaviers ähnlich: blauäugig, mit langen blonden Haaren und ebenmäßigen Gesichtszügen. Wäre er nur etwas größer
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