Spektrum
bestehen, sich den Bauch vollzuschlagen und durch ein Loch im Zaun die gequälten Sünder in der Hölle zu beobachten. Dabei geben alle unumwunden zu, die Ewigkeit verlange von dir, zu jemand anderem zu werden. Zu jemand ganz anderem, den wir uns nicht einmal vorzustellen vermögen. So wie die Raupe, die an einem Blatt nagt, sich keine regenbogenfarbigen Flügel auf dem Rücken vorstellen kann oder den Geschmack von Blumennektar … Und plötzlich näht jemand der Raupe Flügel an.«
Martin erhob sich. Seufzend betrachtete er den Safe.
»Ich möchte Flügel haben«, gestand Irina leise. »Verstehst du das? Selbst wenn ich die Raupe auf dem Blatt bin! Diese unverständliche Meta-Intelligenz kann mir gestohlen bleiben … Es steht doch sowieso in den Sternen geschrieben, ob es die gibt oder nicht. Ich möchte am Strand von Eldorado liegen, ab und an die Hand ausstrecken und ein Glas Margarita direkt vom Barkeeper in Acapulco entgegennehmen. Danach fliege ich ins Weltall und guck mir an, wie der Sanduhr-Nebel im Profil aussieht. Anschließend spiele ich Krieg mit den wackeren Geddarn, verliere ein Dutzend Mal, sterbe, erstehe auf und gewinne dann, worauf wir alle zusammen in ein Restaurant gehen, um den Sieg zu feiern. Ich möchte sehen, wie die Geddarn die Entwicklung ihrer Frauen so weit vorantreiben, dass diese uneingeschränkt über Verstand verfügen, und wie beide darüber erschrecken! Ich möchte lernen, das Gedächtnis der Dio-Daos zu lesen und mit ihnen tausend kleine Leben verbringen! Dann würde ich ein Antiquariat aufmachen und hundert Jahre lang in der ganzen Galaxis mit Raritäten handeln und abends mit meinem Mann in eine Bierstube gehen …«
»Das hatten wir schon«, warf Martin leise ein.
»Was hatten wir schon?«
»Das Restaurant. Wenn du deine Träume fortspinnst, wirst du alles millionenfach wiederholen. Sicher, du wirst mir noch erzählen, wie du dich verliebst, Kinder kriegst und aufziehst, wie du dich der Wissenschaft widmest und etwas entdeckst. Du wirst alle Bücher lesen, die je auf der Welt geschrieben wurden, Paläste erbauen und … Vergiss es. Du bist keine Halbgöttin in der Welt der Menschen. Du bist eine Halbgöttin in einer Welt von Halbgöttern! Du kennst auch so alle Bücher dieser Welt auswendig! Und wozu willst du einen Palast bauen, wenn jeder einen besitzt? Nach dem hundertsten Kind hängt dir das Ganze zum Halse raus, vor allem da dir jedes Kind nach fünf Jahren ebenbürtig ist und du dein Spielzeug verlierst. Krieg zu spielen, wenn jeder unsterblich und allmächtig ist, ist einfach dumm. Sich zum tausendsten Mal zu verlieben ist nicht romantischer, als sich morgens ein Spiegelei zu machen. Sich den Nebel im Profil und die Schwarzen Löcher en face anzuschauen füllt nur einen Vormittag. Um eine wissenschaftliche Entdeckung zu machen, brauchst du dir nur darüber klar zu werden, was du entdecken willst. Fertig! Das darfst du als Replik auf deinen Kommentar zu den zahllosen Beefsteaks und Frauen auffassen.«
Irina hüllte sich in Schweigen.
»Du kannst alles«, wiederholte Martin. »Dir stehen die Möglichkeiten einer Halbgöttin zur Verfügung …«
»Warum einer Halbgöttin?«, erkundigte sich Irina leise.
»Weil du auf einem fremden Spielplatz spielst. Der nicht von dir erbaut wurde. Du bist nicht die Schöpferin.«
»Dann bau ich mir eben meinen eigenen Spielplatz«, sagte Irina.
»Oh!« Darauf sprang Martin an. »Das habe ich mir gedacht. In unserer Welt zu wüten ist nur so lange interessant, wie du allein über Allmacht verfügst … Gut, lassen wir uns einmal darauf ein. Talisman verleiht dir uneingeschränkte und absolute Allmacht! Dann streifst du den Staub dieses Universums von den Füßen, während irgendwo in der Unendlichkeit eine Quantenblase entsteht, und schwebst allein über dem noch brodelnden und menschenlosen Wasser …«
»Lästere nicht, Martin! Vergiss nicht, dass ich russisch-orthodox bin!«, erboste sich Irina.
Martin brach in schallendes Gelächter aus. Er lachte lange und aus vollem Hals. Er hielt sich den Bauch, grunzte, kicherte, gickelte wieder los, hustete und überließ sich einem weiteren Lachanfall.
Anfänglich betrachtete Irina ihn noch voller Verärgerung.
Dann senkte sie den Blick. »Ja, das ist komisch …«, gab sie zu. »Trotzdem … was hindert mich daran, mir eine eigene Welt zu schaffen?«
Mit einem Mal beruhigte sich Martin. »Vermutlich nichts«, räumte er achselzuckend ein. »Warum eigentlich nicht? Nur was würdest
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