Spektrum
erreichte Martin die Vorletzte Ruhe. Zu diesem Zeitpunkt schien seine Kehle rechtschaffen ausgedörrt zu sein, es verlangte ihn nach einem Bier – sei es auch ein hiesiges –, es verlangte ihn nach einem saftigen Steak, das auf dem Grill nur leicht angebraten worden war, es verlangte ihn danach, auf einem soliden Holzstuhl zu sitzen und die müden Beine auszustrecken.
Martin stieß gegen die Tür und betrat den Saloon.
Der Barmann mit den chersonischen Wurzeln stand wie gehabt hinterm Tresen, nur dass er sich jetzt nicht langweilte, sondern Bier zapfte, eine junge Kellnerin anherrschte, die zwischen Küche und Gästen hin und her flitzte – kurz gesagt, er gab sich ganz der Prosa des barmännischen Lebens hin. Zahlreiche Besucher hatten sich eingefunden – Menschen, etliche Außerirdische und ein paar Indianer. Martin hielt nach einem freien Platz Ausschau, den er auch sogleich am Tisch des kleinen kahlen Cowboys fand, der seinen Namen nicht preiszugeben gedachte.
Dem Cowboy gegenüber saß an diesem Tisch zudem Irotschka Poluschkina. Sie trug graue Jeans und ein graues T-Shirt, das ihre Brust straff umspannte, hatte das Haar zum Pferdeschwanz gebunden und auf dem Kopf ein lustiges, ganz jugendliches Käppchen. Gesund und munter saß sie da, sogar einen Bierkrug hielt sie in der Hand.
Vier
So unglaublich es auch klingen mochte, doch das Erste, was Martin empfand, war Erleichterung. Die Frau lebte. Er hatte bei seiner Arbeit keinen Schiffbruch erlebt. Er brauchte sich nicht mit gesenktem Blick eine unglückliche Verkettung von Umständen und seine komplette Hilflosigkeit einzugestehen.
Als Nächstes kochte Wut in Martin hoch. Was auch immer tatsächlich passiert war, Irina spann hier eine raffinierte Intrige, und seine Aufgabe verlangte ihm inzwischen weit mehr als bloßes »Suchen und Zurückbringen« ab.
»Guten Abend, Irina«, begrüßte Martin sie, während er sich an den Tisch setzte. Neugierig, aber ohne übermäßige Anspannung betrachtete die junge Frau ihn.
»Hallo. Sind wir uns schon einmal begegnet?«
»Vor ein paar Tagen«, informierte Martin Irina und musterte sie. Ohne jeden Falsch runzelte Irina die Stirn, blickte zur Decke – kurzum, sie versuchte, sich zu erinnern.
»Sehen Sie, Martin, sie ist wohlauf«, sagte der kahle Cowboy mit unverhohlener Genugtuung. »Gesund und munter.«
»Entschuldigen Sie, ich kann mich nicht erinnern«, gestand Ira. »Wo haben wir uns denn getroffen, Martin?«
»Auf einem anderen Planeten.« Martin versuchte, in diese Worte so viel Sarkasmus als möglich zu legen. »Und mir ist durchaus klar, warum Sie sich nicht daran erinnern können.«
Irina biss sich auf die Lippe. Ihre Augen huschten zu dem Cowboy hinüber. »Verstehe«, seufzte sie. »Bei den Arankern?«
»Was soll das heißen, bei den Arankern?«, stutzte Martin. »Äh … Nein, wir sind uns auf Bibliothek begegnet.«
Die Situation gestaltete sich immer interessanter. Die bemerkenswerte Version der Zwillingsschwester stürzte wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Obgleich – es gab ja auch Drillinge …
»Auf Bibliothek …« Irina nickte verstehend. »Natürlich. Hat es mit der Decodierung denn geklappt?«
»Nicht besser als hier«, teilte Martin ihr süffisant mit. »Es gibt einen guten Ansatz, der jedoch noch nach viel Arbeit verlangt, man muss lernen, experimentieren …«
Je länger Martin Irina ansah, desto stärker verschmolzen die beiden Bilder ineinander, das der Irotschka auf Bibliothek und das der Irotschka auf Prärie 2. Derselbe Charakter, dieselbe Art zu sprechen, das Gesicht zu verziehen, den unbequemen Gesprächspartner hartnäckig anzustarren.
»Wer sind Sie denn nun?«, fragte Irina. »Warum verfolgen Sie mich?«
»Ich bin Privatdetektiv«, erklärte Martin würdevoll. »Ihre Eltern haben mich gebeten, Sie zu suchen und in Erfahrung zu bringen, ob mit Ihnen alles in Ordnung ist.«
»Nur zu suchen und das herauszukriegen?«, hakte Irina sofort alarmiert nach.
»Falls es mir gelingt, soll ich Sie überreden, mit mir zurückzukommen«, lächelte Martin. »Falls nötig, soll ich Ihnen helfen. Irina … Ihre Eltern machen sich große Sorgen, was ja nur natürlich ist. Ich bin mehr als doppelt so alt wie Sie, aber glauben Sie mir, selbst ich sehe mich mit diesen Problemen konfrontiert.«
»Ich habe noch einiges zu erledigen«, erklärte Irina mit einem sanften Lächeln. »Deshalb habe ich nicht die Absicht, nach Hause zurückzukehren. Was jetzt? Wollen Sie mich mit Gewalt
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