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Spektrum

Spektrum

Titel: Spektrum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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Als Martin das bereits bekannte Notizbuch sah, seufzte er. Die junge Frau riss eine Seite heraus und machte sich daran, mit großzügigen Schriftzügen und ohne sich von Platz sparenden Erwägungen leiten zu lassen, eine kurze Nachricht abzufassen.
    Martin und der Cowboy sahen einander an. In den Augen des Cowboys schimmerte etwas auf, das ebenso Sehnsucht wie Gottergebenheit sein konnte. »Frauen …«, kommentierte er weise. »Willst du einen Whiskey, Martin?«
    Kopfschüttelnd lehnte Martin ab. Er sah zum Fenster hinaus, auf die in kaltes elektrisches Licht getauchten Holzbohlen der Gehstege.
    Das Gespräch mit Ira hatte keinen guten Verlauf genommen.
    In der Tat: Frauen … Und wenn sie dann noch dem Kindesalter gerade entwachsen waren, durften sie als Champions in Sachen Sturheit gelten.
    Niemand in der Bar achtete auf das, was sich an ihrem Tisch abspielte. Ja, man tat sogar alles, um es nicht mitzubekommen. Amerikaner sind in diesem Punkt höchst sensibel. Doch auch in Europa respektiert man die »Privacy« anderer. Martin erinnerte sich noch, wie er einmal in der Nähe von Barcelona während der heißen und stickigen Siesta in einem durch eine Klimaanlage gekühlten Bahnhof an einem Cocktail nuckelte. Er wartete auf die Eisenbahn, die nicht minder komfortabel ebenfalls mit einer Klimaanlage, darüber hinaus aber auch mit sauberen Sitzen und klassischer Musik aus den Lautsprechern aufwartete. In diesem Moment betrat eine junge Frau den kleinen Wartesaal, ohne Zweifel eine Touristin, die an das spanische Klima nicht gewöhnt war. Sie machte einige Schritte und glitt, die Augen verdrehend, langsam auf den Boden.
    Was hätte ein solches Verhalten in Russland für eine ungesunde Neugier bei den Menschen entfacht! Im zivilisierten Europa reagierten indes alle ausgesucht höflich, umrundeten die junge Frau, die den Durchgang versperrte, mit Akkuratesse, lächelten und hätten sich für die Unannehmlichkeiten beinahe noch entschuldigt. Martin freilich, geschlagen mit einem russischen Charakter, wollte dem Mädchen das Recht, auf dem Betonboden zu liegen, einfach nicht zubilligen, fischte vielmehr Eiswürfel aus seinem Drink, rieb dem Mädchen damit Schläfen wie Nacken ein, bettete sie bequemer, indem er ihren Kopf auf seine Knie legte, und blaffte den Schalterbeamten an, der hinter seinem Fensterchen nichts von dem sah, was diesen Auflauf verursachte … Die junge Frau hieß Edda und kam aus Deutschland. Ein paar Tage später gestand sie Martin, sie habe in dem Moment, da sie die Augen aufschlug, als Erstes die Polizei rufen wollen. Nun ja, dazu kam es dann doch nicht – nach dem Sonnenstich stand ihr ihre Stimme nicht gleich wieder zu Gebote.
    Insofern sann Martin ein Weilchen über einen durchaus ungehörigen Schritt nach, nämlich Irina unbemerkt an einem winzigen Punkt zu piken und sie, sobald sie ohnmächtig wurde, zur Station zu schleifen. Doch selbst wenn alle um ihn herum, den kahlen Cowboy inbegriffen, kurzfristig das Augenlicht verlören, gewönne er auf diese Weise nichts. Die Schließer gewährten ausnahmslos Einzelpersonen Durchlass. Nur ganz kleine Kinder ließen sie zusammen mit ihren Eltern durch – und das kleine Mädchen, das noch nicht imstande war, eine Geschichte zu erzählen, kaufte Irina niemand ab. Darüber hinaus dürfte Martin sich wohl kaum für die Rolle des Herrn Papa eignen.
    »Man hätte dir eine Tracht Prügel mehr verabreichen sollen«, konnte Martin sich nicht verkneifen zu sagen.
    Ira sah ihn von unten herauf an. »Ach ja«, meinte sie lächelnd. »Nur dass mir niemand jemals eine Tracht Prügel verabreicht hat. Nimm’s nicht so schwer, Schnüffler. Schnapp dir meinen Brief und sieh zu, dass du zur Erde zurückkommst. Mein Vater wird dich mit Geld überschütten.«
    Sie faltete das Blatt sorgsam zusammen, begab sich dann auf die Suche nach einem Umschlag, denn offenbar wollte sie nicht, dass Martin das Dutzend Zeilen las, das sie aufs Papier geworfen hatte. Verärgert starrte Martin wieder zum Fenster hinaus.
    Die Laternen leuchteten. Ganz wie auf der Erde umschwirrten sie irgendwelche kleine Fliegen. Über den hölzernen Gehsteg näherten sich einige Gäste dem Saloon …
    Martin spannte sich an.
    Die verhießen nichts Gutes. So steuerte man nicht auf eine Bar zu, wenn man lediglich einen Whiskey trinken wollte.
    Martin linste zu seinem Karabiner hinüber, der in der Nähe des Tischs an der Wand lehnte. Anschließend huschte sein Blick wieder zu den sich nähernden

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