Spektrum
Flug. So stand die Seele vor Gott und war leer, leerer noch als zu dem Zeitpunkt, da der Mensch das Licht der Welt erblickt hatte …«
Martin trank einen Schluck Wein.
»Einsam ist es hier und traurig«, sagte der Schließer schulterzuckend. »Ich habe schon viele solche Geschichten gehört, Wanderer.«
»Meine Geschichte ist noch nicht zu Ende«, entgegnete Martin. »Die Seele stand vor Gott und war leer, leerer noch als zu dem Zeitpunkt, da der Mensch das Licht der Welt erblickt hatte. Doch Gott war barmherzig und legte all das in die Seele zurück, was sie einst ausgefüllt hatte. Und da fragte der Mensch erneut: ›Herr, was soll ich tun? Wenn Gut und Böse so in mir verschmolzen sind, wohin soll ich dann gehen? Doch nicht etwa in die Hölle?‹ – ›Kehre in das Paradies zurück‹, antwortete der Schöpfer, ›dieweil Ich nichts schuf als das Paradies. Die Hölle trägst du selbst in dir.‹«
Martin sah den Schließer an.
Zögernd ließ der Schließer den Pokal in seinen Händen kreisen. »Einsam ist es hier und traurig«, sagte er nach einer Weile.
»Meine Geschichte ist noch nicht zu Ende«, wiederholte Martin. »›Kehre in das Paradies zurück‹, antwortete der Schöpfer, ›dieweil Ich nichts geschaffen habe als das Paradies. Die Hölle trägst du selbst in dir.‹ Und der Mensch machte sich auf den Weg zurück ins Paradies, doch es verging einige Zeit, da stand er abermals vor Gott. ›Schöpfer!‹, sagte der Mensch. ›Mir geht es nicht gut in Deinem Paradies. Du bist allmächtig und barmherzig. Erbarme dich meiner, vergib mir meine Sünden.‹
›Ich habe eine gänzlich andere Bitte erwartet‹, antwortete Gott. ›Aber ich werde tun, worum du mich bittest.‹
Und Gott verzieh dem Menschen alles, das er getan. Und der Mensch machte sich auf ins Paradies. Doch es verging einige Zeit, da kehrte er abermals zu Gott zurück. ›Was willst du jetzt?‹, fragte Gott. ›Schöpfer‹, sagte der Mensch. ›Mir geht es nicht gut in Deinem Paradies. Du bist allmächtig und barmherzig, Du hast mir verziehen. Aber ich selbst vermag mir nicht zu verzeihen. Hilf mir!‹ – ›Diese Bitte habe ich erwartet.‹, antwortete Gott. ›Dies ist jedoch der Stein, den Ich zu heben nicht vermag. ‹«
»Mich würde interessieren, was dann passierte«, bemerkte der Schließer.
»Mich auch«, pflichtete ihm Martin bei. »Aber das ist der Stein, den ich nicht heben kann.«
»Du hast meine Einsamkeit und meine Trauer vertrieben, Wanderer«, sagte der Schließer. »Tritt durch das Große Tor und setze deinen Weg fort.«
»Vielen Dank.« Martin trank den Wein aus und erhob sich.
»Die Konfrontation mit der Lebensphilosophie der Aranker hat einen gewissen Eindruck bei dir hinterlassen.« Der Schließer lächelte kaum merklich.
»Gewiss«, räumte Martin schulterzuckend ein. »Aber ich bin froh, dass sie eine Seele haben.«
»Möchtest du der Abwechslung halber nicht einmal die Version näher betrachten, derzufolge ihr keine Seele habt?«, wollte der Schließer wissen.
»Nein.« Martin schüttelte den Kopf. »Diese Version ist allzu trostlos.«
»Dein Glaube überliefert eine Begebenheit aus vorsintflutlichen Zeiten, als die Söhne Gottes vom Himmel herniederstiegen und sich Menschenfrauen zum Weibe nahmen, welche ihnen Kinder gebaren«, sagte der Schließer. »Diese Überlieferung empört viele Theologen, denn Söhne Gottes nannte man nur die Engel – und gemeinhin nimmt man an, Engel hätten kein Geschlecht. Mich freilich würde die Frage neugierig machen, ob die Nachkommen von Menschen und Engeln eine Seele hatten.«
»Und mich würde es interessieren, deine Version zu hören«, tastete Martin sich vor.
Der Schließer lächelte bloß.
»Wird irgendwer irgendwann von euch wenigstens auf eine einzige Frage eine Antwort erhalten?«, brauste Martin auf.
Das Lächeln wurde noch breiter.
Martin machte sich nicht gleich zur Erde auf. Er wollte ausschlafen. So wie sein Kopf dröhnte, konnte er sich nur wundern, dass der Schließer die Stegreifgeschichte akzeptiert hatte. Noch vor dem Morgengrauen wachte er auf, aß etwas und setzte sich ans Fenster, um auf das nächtliche Tirianth zu schauen.
Hoch oben zogen als bunte Funken die Gleiter einher, leuchteten die Fenster der Wolkenkratzer. Reklame gab es keine, was Martin ausnehmend gut gefiel. Martin öffnete sogar das Fenster, um die laue saubere Luft zu inhalieren. Von unten, von der Straße drangen Gelächter und ausgelassene Stimmen zu ihm herauf. Das
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