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SPIEGEL E-Book: Best of SPIEGEL:Ausgezeichnete SPIEGEL-Autorinnen und Autoren des Jahres 2012 (German Edition)

SPIEGEL E-Book: Best of SPIEGEL:Ausgezeichnete SPIEGEL-Autorinnen und Autoren des Jahres 2012 (German Edition)

Titel: SPIEGEL E-Book: Best of SPIEGEL:Ausgezeichnete SPIEGEL-Autorinnen und Autoren des Jahres 2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Mascolo
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warum der Kommunismus ein Geschichtsziel brauche. Ihre Zuhörer, fast alles Westdeutsche, staunten über die Kenntnisse dieser Kanzlerin. Das erste Wir war aktiviert bei ihr.
    Sie kann nicht in einer Weise Geschichtspolitik machen wie Helmut Kohl oder Willy Brandt, die sich auf kollektive Erfahrungen von Krieg und Nachkriegszeit berufen haben. Für einen großen Teil ihrer Lebensgeschichte, das Arrangieren mit der Unfreiheit, ist nur der deutsche Osten erreichbar, der Westen betrachtet das gleichgültig oder misstrauisch.
    Merkel macht zeitgenössische Politik wie kein anderer Bundeskanzler vor ihr, kleine Schritte im Hier und Jetzt, gedacht aus dem Hier und Jetzt. Vielleicht kann man so den Euro retten. Aber ein Europa, das mehr ist als ein Wirtschaftsraum, entsteht so nicht.
Eine Zwischenbilanz
    Es geht ihr gut, es geht ihr sehr gut. Der Euro ist weit weg, der schwierige Horst Seehofer auch, Angela Merkel verbringt Zeit mit einem Mann, den sie wirklich mag.
    Er ist deutscher Touristenführer in Hanoi, er zeigt ihr den Literaturtempel, und er hat eine sanfte, milde Art, ihr sein Wissen zu vermitteln. Sie stehen unter einem Torbogen, er zeigt ihr eine alte Medaille, in die Kalendertierzeichen geprägt sind. Merkel sagt mit dem freudigen Stolz der Wissenden, "wir sind ja im Jahr des Hasen".
    Eine Bundeskanzlerin will natürlich zeigen, dass sie auch etwas weiß. Sie weiß das mit dem Hasen spätestens seit der Bundestagsdebatte zum Euro anderthalb Wochen zuvor, als ihr möglicher Herausforderer Peer Steinbrück, SPD, seine Rede mit dem Kalauer beendet hat, die Regierung verhalte sich entsprechend dem chinesischen Kalender, also hasenfüßig.
    "In China ist das Jahr des Hasen", sagt der Touristenführer, "in Vietnam ist das Jahr der Katze."
    "Ah, der Katze", sagt Merkel.
    Hanoi ist die Hauptstadt von Vietnam, aber die Bundeskanzlerin bleibt gutgelaunt. Der Touristenführer hat das nachsichtig gesagt, nicht belehrend. Die beiden gehen weiter, machen halt vor riesigen steinernen Schildkröten, die steinerne Tafeln tragen.
    Es ist heiß, alle schwitzen, und die vietnamesischen Begleiter drängen Merkel, Schluss zu machen, es kommen noch politische Termine. Aber Merkel will nicht, sie will weiter mit diesem sanften, gebildeten Mann durch den Literaturtempel ziehen, und das setzt sie auch durch.
    Es geht nicht um Eros, überhaupt nicht, es geht um Wohlfühlen. Merkel hat sich mit diesem Mann und an diesem Ort sehr wohl gefühlt. Es war die einzige Gelegenheit, bei der ich dabei war, in der die Bundeskanzlerin über einen längeren Zeitraum einer Stimmung folgte, einem emotionalen Gemütszustand, und dabei nicht auf ihre Pflichten achtete.
    Merkel hat selbst den Eindruck, dass sie rumrennt "wie bekloppt", dass sie rumrennt "wie ein Vollidiot". Sie hat manchmal eine etwas derbe Ausdrucksweise, gemeint ist, dass sie sehr viel arbeitet, aber sie hat nichts dagegen, auch wenn das so klingen mag.
    Wenn sie von Freizeit redet, redet sie von "Stücken Freizeit", in denen sie am Wochenende ungestört ein Buch liest oder kocht und dabei ausnahmsweise nicht mit dem Regierungssprecher telefoniert. Seibert kennt ihre Stimme mit klappernden Kochtopfdeckeln im Hintergrund.
    Eine ihrer Stärken ist diese Hingabe an ihren Beruf, ihre große Ernsthaftigkeit. Ich habe von ihr nicht einmal eine dieser grässlichen Politikerfloskeln gehört: "Mein Job ist nicht vergnügungsteuerpflichtig." – "Ich muss das hier nicht machen." Merkel muss das machen, sie will das tun, was sie tut, und nichts anderes. Für eine Bundeskanzlerin ist das eine angemessene Haltung.
    Ihre Intelligenz ist eine Stärke, das weiß man ja. Aber man fragt sich doch, wie sie bei dieser Intelligenz eine solche Fehlleistung abliefern konnte wie die längeren Laufzeiten für Kernkraftwerke. Es ist eine Intelligenz, die sich vor allem damit belohnt, dass es überhaupt ein Ergebnis gibt. Das ist wenig für eine Intelligenz, die als erheblich gilt.
    Politik ist ohnehin nicht nur Ergebnis, Politik ist auch Prozess. Merkel hat ihre Koalitionen nie so steuern können, dass sie halbwegs harmonisch wirkten, sie konnte keinen guten Geist stiften. Vielleicht hätte mal eine emotionale Rede im Kabinett geholfen.
    Demokratie ist die Regierungsform, die den Mitmenschen braucht. Er muss motiviert werden, um eine Regierung oder das politische System zu tragen. So ganz ohne emotionale Ansprache geht das nicht. Die Demokratie hat mit Merkel dürre Jahre erlebt, und dahinter steckt ein großes

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