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wohin die Reise geht, wird von Merkel nicht im Stich gelassen. Sie ist freundlich zu den Journalisten, auch wenn die böse Sachen geschrieben haben, sie ist da ziemlich souverän. Ihr Ton ist distanziert, es gibt keine Nähe, und das ist richtig so. Eine Ausnahme ist Kai Diekmann, der Chefredakteur von "Bild". Wer die Bundeskanzlerin einmal aufgescheucht erleben will, muss sie mit Diekmann erleben. Sie ist dann ganz Ohr und liebenswürdige Betriebsamkeit. "Bild" ist das Massenmedium, auf das sie setzt und vor dem sie Angst hat.
Im Verhältnis zu den anderen Journalisten spürt man eine seltsame Fremdheit, eine Verkrampfung, die sich über die Jahre nicht gelöst hat, obwohl Merkel einmal versuchen wollte, die zu überwinden.
Malta, im Januar. Merkel hat politische Gespräche geführt, hat eine Kirche besichtigt, ein Staatsbankett freudig abgesessen und bittet nun, zum Ende eines langen Tages, die Journalisten ihrer Reisegruppe zu einem Hintergrundgespräch. Ihre Mitarbeiter haben Sofas und Stühle so aufgestellt, dass die Journalisten der Kanzlerin gegenübersitzen.
Sie kommt und ist enttäuscht. Sie habe sich gewünscht, sagt sie, "dass wir mal ungezwungen zusammensitzen". Aber sie hatte an die Bar gedacht, keine Konfrontation, ein Miteinander. Sie versucht es trotzdem: "Was bewegt Sie so?", fragt die Bundeskanzlerin. Rotwein, Knabbereien.
Niemand ist dieser Situation gewachsen. Die, die sonst antwortet, fragt. Und die, die sonst nie privat redet, fragt privat. Aus der geplanten Ungezwungenheit wird etwas Gezwungenes. Niemand kommt heraus aus seiner Rolle, es folgt ein verdruckster Austausch, schließlich ist man bei Guido Westerwelle. Wie ihr Verhältnis zu ihm ist? Merkel hat einen Schluckauf.
Nach einer knappen Stunde steht sie abrupt auf und sagt: "Okay, see you, morgen ist frühe Abreise." Sie geht davon, vorbei an der leeren Bar, sie hat einen spitzen Schritt, eine Art Stechschritt, sie erblickt einen Mitarbeiter und klappt einen Unterarm hoch zur Begrüßung. Manchmal sieht Merkel aus, als spiele sie einen Roboter.
Das unterschwellige Thema dieses Abends auf Malta war Einsamkeit. Zum Beruf des Bundeskanzlers gehört, das fast jede Beziehung komplett über diese Rolle definiert wird, weil sie so herausragend ist. Man kann nicht mal eben einer Bundeskanzlerin sagen, was einen bewegt.
Diese Gezwungenheit gilt auch für Nichtjournalisten. Wenn Merkel Schuhe kauft, kauft die Bundeskanzlerin Schuhe, damit geht jede Normalität verloren. Die Verkäuferinnen erstarren vor diesen zierlichen Füßen der Macht. Merkel hat erzählt, dass sie deshalb nur ungern Schuhe kaufen geht.
Ihre spontanen Begegnungen mit Bürgern wirken fast immer gehemmt. Als sie im Oktober in Hanoi den Literaturtempel besuchte, sprachen sie mehrere Deutsche an. Die Touristen sagten: "Wir kommen aus Düsseldorf." – "Wir sind aus Thüringen." "Ah, aus Düsseldorf", sagte Merkel. – "Ah, aus dem schönen Thüringen." Die Leute wollen fast immer ein Foto mit Merkel, und Merkel stellt sich zwischen sie und versucht sich an einem Lächeln, das mehr ist als nur schmal. Oft wirkt es befangen.
Ich habe nie erlebt, dass einem Bürger etwas Originelles eingefallen wäre oder einer rechtes Interesse an Merkel gezeigt hätte. Die Bürger sind nur gierig auf das Foto. Bundeskanzlerin ist kein Beruf, der günstig ist für bedeutende menschliche Kontakte.
Die Reise, die auf Malta folgte, führte Merkel nach Asien. In Singapur hat sie eine kleine Party für ihre Reisegruppe organisieren lassen, ein ungezwungenes Beisammensein. Eine schwüle Nacht auf der Dachterrasse des Hotels Fullerton in Singapur, die Lichter einer reichen Stadt, drüben liegt ein gigantisches Schiff quer auf drei Hochhäusern. Es ist nicht wirklich ein Schiff, es sieht nur so aus. So baut man hier eine Spielbank.
Merkel lässt auf sich warten, man schwitzt, trinkt, isst Fingerfood. Peter Löscher, Chef von Siemens und Mitglied der Wirtschaftsdelegation, geht bald. Unten an der Treppe begegnet er Merkel. Sie beschwört ihn inständig, mit ihr wieder da hochzugehen, als wolle sie auf keinen Fall allein sein mit diesen sperrigen Journalisten.
Ein deutsches Europa
Am 2. Oktober 2008 flog die Bundeskanzlerin nach St. Petersburg, um sich mit dem russischen Präsidenten Dmitrij Medwedew auszutauschen. Auf dieser Reise fielen Sätze, die damals schon aufhorchen ließen, deren immense Bedeutung sich aber erst in den vergangenen Monaten erschloss.
Die Finanzkrise hatte gerade begonnen,
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