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Irland war schon in Not, auch die deutsche Hypo Real Estate begann zu kippen. Damals wurde diskutiert, ob jedes Land seine Bankenkrise selbst bewältigen muss oder ob alle füreinander einstehen. Merkel machte im Flugzeug deutlich, dass es kein deutsches Geld für Irland geben würde.
Damals zeigte sich eine Haltung, die Merkels Politik in den vergangenen drei Jahren geprägt hat. Kein anderer Bundeskanzler hat das, was er für nationales Interesse hält, so sehr zur Richtschnur für sein Handeln gemacht wie Merkel. Auch diese Haltung kommt aus ihrer Gemütslage.
Angela Merkel hat eine doppelte Identität. Das zeigt sich, wenn sie "wir" sagt. Zum Beispiel so: "Wir waren ja auf der Seite Angolas, aus Angola hatten wir sehr viele Arbeitskräfte." Die Bundesrepublik kann damit nicht gemeint sein. Gemeint ist die DDR. Merkel hat ein DDR-Wir. Natürlich hat sie auch ein Bundesrepublik-Wir. Sie hat in dieser Beziehung zwei Wirs.
Das heißt nicht, dass Merkel keine deutsche Patriotin wäre. Sie ist eine. In ihrem ersten Wir war schon die Sehnsucht nach der Bundesrepublik drin, aber nicht die Sehnsucht nach Europa. Ihr träumerischer Blick übersprang den Westen des Kontinents und richtete sich direkt auf Amerika. Dort wollte sie unbedingt hin, von dort kamen die Jeans, die sie in der DDR ersehnte, Levi's.
Europa ist für Merkel historisch ein Niemandsland zwischen ihren beiden Sehnsuchtszielen, sie hat es erst allmählich in ihr zweites Wir aufgenommen. Sie ist Europäerin, aber ohne Herzergreifung, ohne Emotion.
Wenn sie von ihrer Euro-Politik erzählt, erwähnt sie oft ihren Amtseid. Sie habe geschworen, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden. Das ist ihre Aufgabe, sie will deutsches Geld schützen.
Sie will auch, dass die Euro-Zone und die EU stärker zusammenwachsen. Das will sie aus nationalem Interesse, aber nicht, um Deutschland in die Interessen der anderen einzufügen, wie das bei ihren Vorgängern Konrad Adenauer oder Helmut Kohl der Fall war. Sie will ein Europa, das Deutschland nützlich ist.
Als Angela Merkel Ende Mai nach Indien reiste, tat sie das mit viel Respekt. Sie mag den Ministerpräsidenten Manmohan Singh, den sie für einen altersweisen Mann hält. Sie spricht so warm über ihn wie über keinen anderen Kollegen, beinahe töchterlich warm und respektvoll. Ihr Respekt kommt aber auch daher, dass Indien so groß ist. Sie sagte schon auf dem Hinflug, ihr Ansatz sei nicht, "da hinzukommen und zu sagen, wie man mit 1,2 Milliarden Menschen umgeht".
Sie redet oft über solche Zahlen. In letzter Zeit rechnet sie gern vor, dass kein europäisches Land mehr als zwei Prozent der Weltbevölkerung stellt, dass man zusammen auf sieben Prozent komme, was auch nicht viel sei.
Sie sieht die Macht hinter diesen Zahlen. Und sie will Deutschland eine halbwegs mächtige Rolle in der kommenden Welt sichern, der Welt Chinas, Indiens, Brasiliens, der Welt der großen Völker. Früher waren Zivilisationsstufe, Technisierung und Kriegsfertigkeiten entscheidend. Je geringer die Unterschiede werden, desto mehr zählt die Zahl.
Merkel sieht die Lage so: Deutschland ist wirtschaftlich stark genug, um auch künftig auf den Weltmärkten eine große Rolle zu spielen. Sie will das mit politischer Macht absichern, damit Deutschland nicht zum Gewerbegebiet von China wird. Diese Macht gibt es nur über die Zahl, und dafür braucht sie Europa.
Aber sie braucht nicht irgendein Europa, eines, das Deutschland durchschleppen muss, überschuldet, lahm, rückständig. Sie hat dafür den Begriff geprägt, Europa dürfe nicht "eine Art Partialmuseum" werden. Was immer das genau heißt, sie ist manchmal nicht leicht zu verstehen in ihren Wortschöpfungen – auf jeden Fall heißt es nichts Gutes.
Deshalb sollen sich die anderen Länder anstrengen, um halbwegs so zu sein wie Deutschland, also fit werden für den Weltmarkt, und mit diesen erstarkten Nachbarn will sich Deutschland zu einem starken Europa enger zusammenschließen. Ziel von Merkels Politik ist also in gewisser Weise eine Deutschland-Vergrößerung, diesmal mit friedlichen Mitteln.
Am Donnerstag war sie in Frankreich, Präsident Nicolas Sarkozy treffen. Der italienische Ministerpräsident Mario Monti war auch dabei. In der Pressekonferenz erklärt sie die kommende Finanzpolitik, und Sarkozy misst sie dabei zweimal mit einem ernsten Blick, der vom Gesicht bis zu den Schuhen wandert und zurück. Dann redet er und erzählt, wie die beiden miteinander Politik machen, sich fast
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