Spiegel E-Book - Nelson Mandela 1918-2013
Entscheidungsprozesse der neuen ANC-Kader, die er nach 27 Jahren Haft kennenlernte, sind ihm wesensfremd wie jedem, der sich von Natur aus zum Chef berufen fühlt.
Wissenschaftlichem Marxismus ist Mandela lange mit einem im Stammesdenken wurzelnden Frühsozialismus entgegengetreten. Seit er als präsidiabel gilt, tendiert er zur Umverteilung der Reichtümer Südafrikas über den Sozialhaushalt. 18 Millionen Einwohner leben in Armut und erwarten von Mandela, daß sich das ändert.
Die hoffnungsfrohe Fangemeinde des Nobelpreisträgers vergißt, daß auch er nicht beliebig Wasser in Wein verwandeln kann, nachdem er als Greis der Zeitmaschine entstiegen ist. Sie hat den aus der Haft Entlassenen um eine Generation vorwärtsbeschleunigt, hinein in die hochtechnisierte Welt der weißen Metropolen. Monate vor Mandelas Freilassung begannen Beamte, den über 70jährigen inkognito durch Kapstadt zu kutschieren - zur Resozialisierung der Sinnesorgane.
Vom Tag seiner Hochzeit im Juni 1958, als Angehörige von Nelsons Madiba-Klan reichlich Vieh in den Kral seiner Braut Winnie trieben, bis zur ersten Rede vor den Fernsehkameras der Welt in Kapstadt 1990 hat Mandela gerade vier Jahre in Freiheit verbracht.
Dazwischen lag Robben Island, die Zeit auf der Zuchthausinsel vor der Küste des Kaps, wo die weißen Herren vergebens versuchten, dem schwarzen Vordenker das Rückgrat zu zerschlagen. 1962 war der untergetauchte Politiker dank tätiger Mithilfe des CIA-Agenten Millard Shirley enttarnt worden.
Unerschütterlich hat Mandela auf Robben Island Kalkstein gebrochen wie alle anderen und im eisigen Wasser Seetang gesammelt. Hat in der Vier-Quadratmeter-Zelle burische Lyrik gelesen, um die Seele des Feinds kennenzulernen. Er war es, der um Akkordquoten feilschte, um Zeitungen und Besuchsgenehmigungen. „Er hat für uns alle gesprochen“, sagt Walter Sisulu, der 81 ist, so alt wie der ANC, und sechseinhalbtausend Tage und Nächte mit Mandela auf der Insel saß.
Als Mitte der Achtziger die Unterhändler der Burenregierung Mandela diskret ihre Aufwartung zu machen begannen, war er bereits von Robben Island aufs Festland verlegt worden. Kobie Coetsee, noch heute Minister im Kabinett de Klerk, erlebte, wie der Gefangene ihn im Krankenhaus Kapstadt mit großer Geste den Pflegerinnen vorstellte und dann höflich fragte: „Kann ich irgend etwas für Sie tun?“
Das war nicht mehr der gefürchtete Boxer mit dem verschlagenen Blick, der Staatsfeind und Aufwiegler, den der Minister von Fotos her kannte. Vor ihm stand ein afrikanischer Grandseigneur, ähnlich jenen schwarzen Führern, die um die Jahrhundertwende in Anzug und Hut nach London reisten, um sich höflichst über die Behandlung durch britische Kolonialbeamte zu beschweren.
Als sich am 11. Februar 1990 in Kapstadt die Gefängnistore öffneten und Nelson Mandela wieder zur Welt kam, wurde die Wandlung für alle augenfällig. Grau geworden und schmal, ungebrochen aber und beinah vergeistigt, trat das Idol an die Öffentlichkeit. Erst als seine Frau Winnie effektsicher die Faust reckte, entschloß sich auch Nelson zum Kampfgruß.
Mandela hielt eine denkwürdige Rede. Er griff die Weißen an und forderte die Fortsetzung des bewaffneten Kampfs. ANC-Führer, so stellte sich später heraus, hatten ihn zu dieser Botschaft für den radikalen Teil ihrer Anhänger genötigt. Präsident de Klerk, seinen Partner in den Verhandlungen, nannte der Freigelassene einen „rechtschaffenen Mann“.
Seit jenem Tag wächst die Zahl von Mandelas Gegnern. Sie kommen aus einem Lager, wo schon der Dialog mit Weißen als Verrat an der gerechten Sache gilt. Viele haben nicht vergessen, daß de Klerk sich noch 1985 dagegen wandte, das Unzuchtgesetz zu tilgen - es erklärte die Liebe zwischen den Rassen zum Straftatbestand. Sie verstehen nicht, warum Mandela den Buren ins nächste Kabinett bitten muß.
Die Opposition gruppiert sich um die „Graswurzler“, um Seismologen der schwarzen Basis wie den bitteren Kommunisten „Old Man“ Gwala, der sagt, der ANC sei nun auf dem Weg, „weißer als die Weißen“ zu werden, und Mandela zu schwach, um das zu verhindern. Auf derselben Welle segeln die radikalen ANC-Jugendlichen und die von Nelson verstoßene Winnie Mandela.
Die rechtskräftig wegen Menschenraubs Verurteilte ist unter den Elenden im Township Soweto populär wie eh. Sie feiert ein Comeback an der Spitze der ANC-Frauen. Fallweise tritt sie auch wieder im Gefolge Nelsons auf, dessen wandelnde
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