Spiegel E-Book - Nelson Mandela 1918-2013
Genossen Chris Hani“, brüllt sich der Mann am Mikrofon weiter durch die Walhalla des Widerstands. „Er lebe lang“, schallt es matt von den Rängen. „Die Zeit ist gekommen“, skandieren nun alle - „das Volk an die Macht.“
Still steht der vornehme alte Mann neben dem Einpeitscher und wartet darauf, daß die Sprechchöre enden. Er reckt wohl hin und wieder noch seine Faust. Doch es ist ein Ritual, dem der verschwörerische Zauber vergangener Tage fehlt. Auch sein Gesicht ist nicht mehr das aus den zornigen Zeiten. Nelson Mandela thront mild über dem Meer aus Fäusten und schwarzgrüngelben Fahnen.
Er weiß, daß der Kampf gegen die Unterdrücker gewonnen ist und der gegen die Neider beginnt. Für Generationen war die geballte Faust Erkennungszeichen im schwarzen Widerstand. Diese Zeit geht jetzt zu Ende. Sieger ballen keine Fäuste.
Im Tonfall eines nachsichtigen Vaters, der ungebärdige Kinder in die Pflicht nimmt, richtet Nelson Mandela das Wort an sein Volk und spricht vom neuen Ziel der Bewegung.
„Am 27. April müssen wir früh aufstehen“, mahnt Mandela. „Sure“, raunen zustimmend die Betschwestern im grellroten Ornat. „Dann gehen wir zum Wahllokal. Dort gibt es Kabinen. So kann keiner wissen, was wir wählen.“
Das findet die Menge erfreulich. Viele hatten befürchtet, der „baas“, der mächtige weiße Dienstherr, werde todsicher erfahren, wem sie ihre Stimme geben.
„Auf der Liste“, fährt Mandela fort, „sucht ihr die Flagge mit dem Assegai, unserem Speer, und einem Rad. Daneben seht ihr das Bild eines sehr schönen Jungen, der graue Haare bekommen hat von dem Ärger, den ihm andere bereitet haben.“ Die Kulisse stöhnt mitfühlend in Richtung Bühne. „Dann“, sagt Mandela und lächelt, „macht ihr ein Kreuz.“
Nelson Mandela ist 75 und auf geradem Weg, der erste schwarze Präsident Südafrikas zu werden. Er hat noch nie in seinem Leben gewählt. Mehr als ein Vierteljahrhundert verbrachte der Häftling Nummer 466/64 und Staatsfeind Nummer eins im Gefängnis. Nun steht er vor der Vollendung des afrikanischen Traums: Die letzte Bastion des Imperialismus in Schwarzafrika ist fast schon geschleift.
Wer ein Menschenalter lang warten mußte, darf sich kurz vor dem Ziel keine Patzer mehr leisten. Mandela weiß, daß Millionen schwarzer Analphabeten die Wahlzettel nicht lesen können. Mit einfachen Mitteln baut der Alte deshalb Brücken über die Schlucht.
„Achtet auf den Assegai, unseren Speer, und auf die drei Buchstaben“, sagt er. „A - N - C“, schreien die Anhänger stolz. „Very good“, sagt Mandela.
Einer, der dem Wohl der Masse 27 Jahre seiner eigenen Freiheit geopfert hat, muß nicht von Steuern, Arbeitsbeschaffung und Lehrplänen reden. Er braucht kein Programm wie andere. Er ist das Programm.
Sachte schart der Führer sein Volk hinter sich und hofft, es werde sich nicht nur seiner Person, sondern auch dem dazugehörigen Ziel verschreiben - einem demokratischen Südafrika, in dem nach 340 Jahren weißer Hegemonie alle Rassen gleiches Recht genießen sollen.
Mandela selbst hat längst die Faust geöffnet zum Handschlag mit den weißen Herrenmenschen. Die Deklassierten im Stadion des Townships Mahwelereng und anderswo im Land am Kap sollen nun folgen. Er will sie in ein „besseres Leben“ führen, herausholen aus dem blutigen Kreislauf von Armut, Ohnmacht und Gewalt.
Feuer in den Armensiedlungen hat dem Afrikanischen Nationalkongreß (ANC) politisch genützt, solange Mandela und seine Mitstreiter in Haft waren. Die verbotene Organisation konnte die Wut der Jugend kanalisieren und den Weg zum Sturz der weißen Burenclique ebnen. Seit aber Mandela selbst an der Spitze des ANC steht und die Macht im Staat anstrebt, ist der gegenstandslose Haß vieler Slumbewohner zur Gefahr für die Bewegung geworden.
Der Wunsch nach Vergeltung zerfrißt den Glauben an die Demokratie und ihre konstitutiven Säulen, den frühere ANC-Generationen hochhielten. In den schäbigen Shebeens, den illegalen Schankstuben der Townships, ist heute wenig zu spüren vom Geist der Freiheitscharta, die der ANC vor 40 Jahren auf der Rennbahn von Kliptown verkündete.
In der spätsommerlichen Mittagshitze tritt Nelson Mandela auf die jungen Kämpfer von Umkhonto we Sizwe zu, die ihn mit todernster Miene von der tanzenden Menge im Stadion trennen. Der „Speer der Nation“ wurde zu Untergrundzeiten geformt für den bewaffneten Kampf gegen das Apartheid-Regime. Nun soll die Truppe dem
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