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Spiegelblut

Spiegelblut

Titel: Spiegelblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uta Maier
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bisschen wie ich selbst: ein Fancy-Freak, der sich in Glasgows Straßen herumtrieb, allein, und danach in der virtuellen Welt untertauchte. Mir kam es vor, als wäre das bereits eine Ewigkeit her. Ich fuhr das iPad hoch und freute mich darüber, dass Pontus so clever gewesen war, es vorher aufzuladen. Mit der Decke auf den Beinen und dem iPad auf dem Schoß klickte ich meine Lieblingsoper Turandot an. Nessun dorma – Keiner schlafe – ich fand, es gab kein passenderes Lied zu diesem Zeitpunkt. Ich stellte die Arie auf Wiederholen. Der Anfang lautete übersetzt aus dem Italienischen: Keiner schlafe! Keiner schlafe! Auch du, Prinzessin, in deinem kalten Zimmer …
    Ich wickelte die Decke komplett um mich herum, lehnte mich an die Mauer und lauschte der Version von Pavarotti. Ich merkte nicht, wie meine Augen zufielen … Dilegua, o notte! Tramontate, stelle! Tramontate, stelle! All‘alba vincero – Oh Nacht entweiche, und jeder Stern erbleiche, jeder Stern erbleiche, damit der Tag entsteh …
    Gab es überhaupt so etwas wie eine Seele? Und wenn ja, was war ihr Wesen? Hatte eine Seele eine Mitte – wie teilte man sie? Und wie vereinte man sie wieder? Dafür war ich doch hier, oder? Ich war so müde …
    Ich riss die Augen auf. Damontez stand vor mir – ich war eingeschlafen und hatte ihn nicht reinkommen hören, jetzt war seine plötzliche Anwesenheit wie ein Blitz, der mit dem Donner zusammenfiel. Er hatte etwas um die Hand geschlungen, das ich nicht erkannte.
    »Steh auf!«
    Das tat ich, wenn auch ein wenig unbeholfen. Ich legte das iPad neben mich, zerrte an der Decke und kam auf die Füße.
    »Runter mit der Kapuze!«
    Hab ich ein Glück, dass du nicht »Runter mit den Klamotten« gesagt hast, dachte ich mit einem Anflug von Sarkasmus und schob die Kapuze mit beiden Händen so würdevoll wie möglich nach hinten. Mein innerlicher Spott über die Situation verpuffte in dem Moment, als ich sah, was er von seiner Hand abwickelte.
    »Dreh dich um!«
    Ich atmete tief durch und wandte das Gesicht zur Wand.
    Aber ich habe Angst im Dunkeln, ich kann nicht atmen, wenn es stockfinster ist … ich kann vielem ausgeliefert sein, aber nicht der Dunkelheit … bitte …
    Er band mir das Tuch um die Augen, und ich wusste nicht, was ich mehr hasste, ihn oder die plötzliche Blindheit. Ich spürte, wie er die Knoten an meinem Hinterkopf setzte. Eins-zwei-drei. Er stand so dicht hinter mir, dass der Stoff seines Hemdes an Pontus’ Pullover rieb. Ich musste mich zwingen, stehen zu bleiben. Als er fertig war, fasste er mich an den Schultern und drehte mich wieder zu sich. Vor Angst bekam ich keine Luft.
    Ich bin blind … ich kann nichts sehen. Ich bin tot! Hab keine Angst, Finan, ich bin doch jetzt da, ich halte deine Hand, bitte, weine nicht …
    »Die Augenbinde bleibt, wo sie ist, verstanden?«
    »Ja.« Bitte lass mich fragen, was du vorhast!
    »Die rechte Hand nach vorne!«
    Nein!
    »Die rechte Hand nach vorne!«
    Weine nicht …
    Verdammt, wieso mussten meine Finger dabei so zittern. Es ist doch nur ein Tuch!
    »Handfläche nach oben.«
    Ich drehte meine Hand, wartete und hasste ihn.
    »Was ist das?« Er legte etwas in meine Finger. »Antworte!«
    Der Gegenstand war für die kleine Größe schwer, die Oberfläche kühl und glatt. Ich umschloss ihn leicht, um ihn besser zu spüren. »Ein – ein Stein, glaube ich.«
    »Was für ein Stein?«
    »Ich weiß es nicht!« Ich bin blind.
    »Farbe?«
    Erst jetzt begriff ich, dass es ein Test zur Spiegelsicht war. »Ich kann ihn nicht sehen, ich weiß es nicht!« In meinen Ohren spielte ein Ton, der definitiv nicht zu Turandot gehörte. Ein zarter Akkord hüpfte mitten durch Pavarottis kräftiges Nessun Dorma .
    Plötzlich war er hinter mir, drückte meine Finger mit seinen um den Stein, nicht besonders fest, aber bestimmt. »Farbe, hab ich gesagt. Streng dich an!« Meine Hand blieb in seiner.
    Oh verdammt! Am besten tat ich so, als würde ich raten.
    »Blau!« Ich gab mir Mühe, enthusiastisch und überzeugt zu klingen, und betete, dass er nicht bemerkte, wie sehr ich schwitzte. Das war eine idiotische Idee – der kleine Stein schwamm bereits in einer Lache.
    »Falsch.« Seine Finger griffen um meine Faust wie eine fleischfressende Pflanze, die sich jederzeit schließen konnte. »Welches Problem hast du?«
    »Ich habe Angst«, flüsterte ich. »Ich kann mich nicht konzentrieren.« Ich durfte ihm auf gar keinen Fall verraten, dass ich die Farbe des Steins kannte, denn sonst hätte

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