Spiegelblut

ich mich auf die andere Seite.
    »Hallo?« Ich musste komplett verrückt sein. Aber vielleicht brauchte er Hilfe.
    Dem ist nicht mehr zu helfen, Coco, und dir auch nicht. Lauf weg! Hol die Polizei!
    Wasser blutete aus der Mitte des Tunnels, durchnässte meine Ballerinas, aber das spürte ich kaum. Jetzt, wo ich mich immer näher an den Mann heranpirschte, wusste ich, was dort in dem Herzen des Toten blinkte. Es war zu spät, es abzuleugnen. Ich hatte es von Anfang an gewusst. Eloi hatte mir davon erzählt, in all seinen Geschichten über die Dämonenjagd, doch niemals zuvor hatte ich einen gesehen: ein Speer aus Stahl mit einer diamantenen Spitze. Sie nannten sie Diamantsonnen. Blink-Blink-Blink. Ich stand keine drei Meter von dem jungen Mann entfernt. Sein Fuß stützte lässig an der Wand, ein scharfer Kontrast zu seinem Kopf, der nach unten baumelte, als hinge er nur noch an einem Fädchen. Die Haltung wirkte wie eine Verhöhnung. Hatte man ihn absichtlich so zurückgelassen?
    Ich konnte seine Stirn nicht sehen, aber ich musste es wissen! Ich musste wissen, ob er ein Siegel trug, ein Symbol, das sich bei allen Lichtträgern mit fortschreitenden Fähigkeiten auf der Stirn zwischen den Augenbrauen zeigte; es gab einen Aufschluss über ihre besonderen Kräfte. Die Hand geistergleich hob ich seinen Kopf an. Das Zeichen auf seiner Stirn glich dem von Eloi. Es war ein linksdrehendes, mattrotes Sonnenrad. Ein Lichtträger der Raumkrümmung. Eloi hatte nie fantasiert! Meine Knie wurden weich. Über dem Siegel war das Wort V-E-R-R-Ä-T-E-R in die Haut geritzt. Das V war extrem tief gezogen, ein Dreieck aus weißem Fleisch hob sich von der Stirn ab. Ich presste die Hand auf den Mund, um nicht loszuschreien. Übelkeit krampfte meinen Magen zusammen. Erst jetzt begriff ich wirklich, was ich sah, als hätte ich vorher bloß geträumt. Ich stolperte rückwärts und trat dabei fast auf einen aufgeklappten Laptop. Auf dem Bildschirm stand nur ein einziger Satz, ich musste mich bücken, um ihn lesen zu können: Bleib in Kirklee, ich komme!
    Kälte kroch in meine Glieder, als ich mich langsam wieder aufrichtete. Er hatte mir etwas über das Amulett sagen wollen. Etwas, das so wichtig war, dass er die Foren-Regeln dafür verletzt hätte. Erneut sah ich zu ihm auf. Das Medaillon scheuerte unter dem Saum meines Shirts. Er war ein Lichtträger – oh Gott ein Lichtträger! – ein Dämonenjäger . Und wo ein Jäger … Panisch kreiselte ich herum und blieb stehen, als hätte man mich in Zement einbetoniert.
    Zuerst sah ich sie nicht. Sie schienen wie eine Woge Tod, die sich hinter der Kurve auftürmte und auf mich zurollte. Doch dann waren sie da, standen inmitten der Dunkelheit. Ihre Konturen bildeten schwarze Scherenschnitte in der grauen Umgebung. Starr wie aus Erz gegossen, fixierten sie mich. Ich blinzelte betäubt. Der einzige Fluchtweg war vergittert.

3. Kapitel
    »Oft trifft man sein Schicksal auf Wegen, die man
eingeschlagen hatte, um ihm zu entgehen.«
    JEAN DE LA FONTAINE
    Lius Arie plärrte aus meinen heruntergezogenen Ohrstöpseln, und ich begann zu rennen. Ich lief einer Wand aus eineinhalb Metern hohen Gittern entgegen, über die ich mindestens zehn Sekunden bräuchte. Meine Beine gehorchten mir kaum, ich hörte das Keuchen meines Entsetzens und spürte ihre Kälte, noch bevor mich einer von ihnen zu Fall brachte. Ich konnte nicht sagen, ob er mir einen Stoß versetzt hatte oder einfach die Beine wegzog. Meine Hände schrammten über den Boden und mein Kopf schlug mit der Stirn so hart auf, dass sich hinter meinen geschlossenen Lidern Blitze bildeten.
    Sie sind zu viert, du hast keine Chance … du wirst sterben wie Lester …
    Ehe ich mich umdrehen oder irgendwie reagieren konnte, wurde ich auf die Beine gezerrt und rücklings an die Wand gedrückt. Die Bewegung verlief so schnell, dass ich sie erst begriff, als sie vorbei war. Innerhalb weniger Sekunden hatte ich meine Lage erfasst. Drei Vampire, einer dunkelhaarig, zwei blond. Und dahinter ein Lichtträger mit linksdrehendem Sonnenrad-Siegel – Raumkrümmung. Wenn Elois Geschichten über diese magischen Fähigkeiten stimmten, könnte er mich an jeden Ort der Welt bringen. Und sein Siegel war vollständig geschlossen, das bedeutete enorme Macht und eine ausgereifte Fähigkeit. Ich kam nicht dazu, mich darüber zu wundern, was der Lichtträger bei den Dämonen verloren hatte, denn ich hatte die uneingeschränkte Aufmerksamkeit des braunhaarigen Vampirs.
    Seine Finger