Spiegelkind (German Edition)
er noch nie gemacht. Ich wehrte mich, ohne nachzudenken – und vergaß dabei für einen Augenblick vollkommen, dass die Hand, in die ich mit aller Kraft reinbiss, meinem Vater gehörte. Papa schrie auf. An diesem Ton hätte ich ihn niemals wiedererkannt, mir war neu, dass er so kreischen konnte, und seine Worte trafen mich bis ins Mark.
»Du verzogenes Pheenkind! Genau wie deine Mutter! Deine Mutter!«
Die Quadren meiner Mutter
Dann wurde es ganz still, so still, dass ich die Uhr ein Stockwerk tiefer in der Küche ticken hörte. Ich saß auf dem Bett und schaute meinen Vater an. Er stand vor mir, sein Gesicht war rot, seine Krawatte hatte sich gelöst, er knetete mit der einen Hand die Lehne meines Drehstuhls und hielt sich die andere vor den Mund. Er war entsetzter als ich.
Wir starrten uns an, als hätten wir uns noch nie im Leben gesehen.
Mein Vater sprach als Erster.
»Es tut mir leid«, sagte er.
Ich schwieg.
»Das hätte ich nicht sagen sollen«, sagte er.
»Aber wenn es doch wahr ist«, sagte ich. So, jetzt war es heraus.
Mein Vater seufzte und setzte sich zu mir aufs Bett. Er legte mir den Arm um die Schultern und aus Rücksicht zuckte ich nicht zurück, obwohl er ziemlich schwer war und drückte. Außerdem juckten meine Schulterblätter.
»Meine Mutter ist eine Phee«, sagte ich. Es hätte eine Frage sein sollen, aber dann ging mir das Fragezeichen in der Stimme verloren. Hatte ich heute Morgen wirklich noch gedacht, Pheen gäbe es nur in Märchen? Ich konnte mich nicht erinnern. Seitdem, so schien es, war ein ganzes Leben vergangen.
Mein Vater nickte. Es kostete ihn sichtlich Überwindung.
»Ja«, sagte er.
»Und was heißt das jetzt? Was hat das mit ihrem Verschwinden zu tun?«
Mein Vater sah mich an und schwieg.
Ich versuchte es anders. »Ist es sehr schlimm, eine Phee zu sein?«
»Oh ja«, sagte mein Vater. »Das ist sehr schlimm.«
»Eher für sie als für dich, oder?«, fragte ich.
»Für dich«, sagte mein Vater. »Es ist vor allem für dich schlimm.« Er stand auf und seine Miene verhärtete sich. »Ich habe ja überhaupt keine Ahnung gehabt, wie naiv du wirklich bist. Und wie absolut ahnungslos. Das ist ihr Fehler.«
Er beugte sich zu mir herunter. »Juli«, flüsterte er eindringlich. »Wenn ich du wäre und wenn ich klug wäre, dann würde ich so was von den Mund halten. Und vielleicht ginge dann, aber auch nur dann, dieser Kelch an uns vorüber.«
»Welcher Kelch?«, fragte ich und mein Vater griff sich stöhnend an den Kopf, als müsse er den Schädel zusammenhalten, bevor er bersten würde. Dann stürzte er aus meinem Zimmer.
Ich blieb auf dem Bett sitzen. Mein Blick wanderte zu dem Quadrum, das an der Wand hing. Meine Mutter hatte es gemalt, extra für mich. Es war eines ihrer größten. Jaro und Kassie hatten kleinere, sie hingen in ihren Zimmern. Alle Quadren meiner Mutter waren ein bisschen ähnlich, fand ich.
Auf meinem Quadrum war ein Haus, das auf einer Lichtung mitten im Wald stand. Es war ein altes braunes Häuschen aus Holzstämmen, nicht sehr groß, mit einer Terrasse. Die Haustür war leicht angelehnt. Über der Brüstung der Terrasse hing ein geblümtes, an einer Ecke versengtes Küchentuch. Auf den Dielen stand eine Untertasse mit Milchresten.
Ich war mir sicher, dass diese Milch vom Bewohner des Hauses für seine Katze hingestellt worden war. Die Katze hatte schon fast alles geleert. Aber nirgendwo auf dem Quadrum war ein Tier oder ein Mensch zu sehen. Ich war immer davon ausgegangen, dass der Mensch noch im Haus war – das Quadrum sah nach einem frühen Sommermorgen aus – und dass die Katze vielleicht gerade im Wald jagte.
Ich fand es schön, dieses Quadrum beim Aufwachen und Einschlafen zu sehen. Manchmal hatte ich das Gefühl, den Wald rauschen zu hören. Überhaupt hatte ich den Wald nie als einfach nur gemalt wahrgenommen. Er war nicht weniger lebendig als jeder andere Wald dieser Welt, er war nur etwas weiter weg.
Manchmal hörte ich ganz leise Töne aus dem Quadrum, die wie Flüstern und Kichern klangen. Deswegen dachte ich, dass vielleicht mehrere Menschen im Häuschen lebten und dass mindestens einer von ihnen ein Mädchen war.
Beim Frühstück quengelte sich Kassie die Seele aus dem Leib.
»Maaaammaa«, nölte sie. »Ich will meine Maaaamaaa.«
Meine Großmutter hatte schon wieder Schweißperlen auf der Stirn. Sie hatte Kassie Kakao gekocht, eine Schüssel Schokomüsli hingestellt, zwei Brote mit Schokocreme bestrichen – an jedem
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