Spiegelkind (German Edition)
gestellt, dass ich mich nach Pheen erkundigt hatte. »An alle außer Juli Rettemi, die sich für obszöne Inhalte interessiert«. Jedenfalls saß ich plötzlich ganz allein da.
Bis jetzt hatte ich nicht eine einzige Antwort auf meine Fragen bekommen. Und ich wusste auch nicht, wo ich sie finden konnte. In der Schule durfte ich das Wort Phee nicht in die Suchmaske eingeben. Antworten wollte mir niemand – das hatte ich nun ausreichend oft ausprobiert.
Bei uns zu Hause konnte ich nicht ins richtige Netz. Der Zugang wurde streng nach Status freigeschaltet. Mein Vater hatte in seinem Büro einen ziemlich hohen – jedenfalls vermutete ich das. Ich kam an Computerspiele, die unterschiedliche Bereiche des Gehirns trainieren sollten, Infoseiten für Teenager, meine eigenen elektronischen Fotoalben und das Nachrichtennetz des Lyzeums heran. Jaro und Kassie konnten Kindernachrichten empfangen, ausgewählte Zeichentrickfilme und eine Quizsendung mit einem Moderator, der eine rote Clownsnase hatte.
Aber das Netz oder Spiele wie SYSTEM langweilten mich ohnehin.
Das Einzige, was mich nicht langweilte, waren meine Bücher.
Dort verhielten sich Fünfzehnjährige wie volljährig. Sie hatten Aufgaben zu bewältigen, an denen Erwachsene gescheitert waren. Das faszinierte mich, auch wenn es für mich insgeheim sehr beruhigend war, dass es nicht meiner Realität entsprach. Aber jetzt konnten mir auch die Bücher nicht weiterhelfen. Alles, was drin gestanden hatte, war gelogen. Nicht, dass es mir neu gewesen wäre, aber zum ersten Mal in meinem Leben frustrierte es mich.
Der Schultag verlief noch zäher als sonst.
Selbst die Lehrer schienen mir gegenüber reserviert zu sein, aber vielleicht war das auch nur so ein Gefühl. Mir war, als würde ich die ganze Zeit schlafen und schlecht träumen. Ab und zu zwickte ich mich mitten in der Lerneinheit, kniff die Augen zusammen und öffnete sie wieder, in der Hoffnung, aufzuwachen und alles wäre wieder beim Alten.
In der ersten Pause hatte ich auch nichts Besseres zu tun, als fleißig die Augen zu öffnen und wieder zu schließen. Als ich sie das siebte Mal aufmachte, saß vor mir die grinsende Ksü und die Schlange auf ihrem Schädel blickte mir mit dem kleinen schwarzen Auge direkt ins Gesicht.
»Hallo!« Ksü knuffte mich, dass ich fast vom Stuhl fiel. »Du guckst, als hättest du mich schon komplett verdrängt!«
Genauso war es auch. Ich hatte gerade so viele Probleme, über die ich ständig nachdachte, dass Ksü komplett aus meiner Erinnerung gerutscht war.
»Geht’s dir so schlecht, wie du aussiehst?«
Ich guckte sie nur an. Sie war wirklich ein Frischling. So etwas fragte man nicht auf dem Lyzeum, selbst wenn ich mit meinem abgerissenen Kopf unterm Arm aufgetaucht wäre.
»Geht so«, sagte ich abweisend.
»Wenn ich irgendwie helfen kann, sagst du Bescheid, ja?«
Jetzt wäre ich beinahe vom Stuhl gefallen. So etwas hatte ich überhaupt noch nie gehört.
»Warum sagst du das?«
»Warum nicht?« Ksü zuckte mit den Achseln. »Du hilfst mir doch auch.«
Aber nicht freiwillig, dachte ich. Wenn man mich dazu nicht gezwungen hätte, hätte ich dich liebend gern im Stich gelassen.
Ich spürte, wie meine Wangen heiß wurden, wahrscheinlich wurde ich gerade rot wie eine Tomate.
Denn ich war neidisch auf Ksü.
Ich hätte das nicht gekonnt – einfach mitten im Jahr auf das Lyzeum zu kommen. Ich selber war damals zu Beginn des sechsten Schuljahres eingestiegen, das war schon schlimm genug gewesen. Und alles, was Ksü tat, wäre für mich damals wie heute tabu gewesen: eine Uniform tragen, die so aussah, als hätte sie die Nacht zusammengeknüllt unterm Bett verbracht. Hosen anstatt eines Rocks anzuziehen – fast alle anderen Mädchen trugen Röcke, deswegen hielten viele Ksü für einen Jungen. So fröhlich und unbeschwert zu sein, obwohl kein einziger Schüler mit ihr redete und alle wegrückten, sobald sie auftauchte. Außer mir, aber ich war dazu verpflichtet, ihr zu helfen. Zum Nettsein konnte mich keiner verpflichten, also war ich auch nicht nett.
Ich sagte gar nichts mehr, sondern vertiefte mich in die Zahlenkunde. Ksü ließ mich in Ruhe. Erst schrieb sie ebenfalls etwas in ihr Heft, dann schlug sie es zu und beschäftigte sich mit ihrem Notebook. Ich wollte mich nicht drum kümmern, aber dann wurde ich neugierig.
»Warum arbeitest du nicht weiter?«
»Ich bin fertig«, flüsterte Ksü zurück. »Deswegen spiele ich.«
Ich schielte auf ihren Bildschirm in der
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