Spiegelkind (German Edition)
anderen Tag wäre Kassie glücklich und leise gewesen. Aber heute schob sie Teller, Schüssel und Tasse von sich weg und wiederholte immer wieder wie eine kaputte Sprechpuppe: »Aber ich wiiiill zu meiner Maaamaaa. Zu meiner Maaama.«
»Sie ist verreist«, redete Ingrid auf Kassie ein.
Kassie entdeckte mich und das gab ihr Auftrieb.
»Aber Juli sagt, Mama ist gar nicht verreist!« Sie zeigte mit einem schokoverschmierten Finger auf mich.
»Natürlich sagt Juliane, dass deine äähhh …« Das Wort Mutter kam Ingrid sichtlich schwer über die Lippen, »dass sie verreist ist. Juliane, sag es bitte noch mal, damit Kassandra es hören kann.«
Ich blickte in Kassies verschmitzte Augen. Anders als Ingrid sah ich genau, dass Kassie nicht etwa untröstlich war, sondern sich einen Spaß draus machte, unsere Großmutter auf die Palme zu treiben. Um unsere Mutter machte sich Kassie, wie es mir schien, nicht die geringste Sorge. Ich wusste nicht, ob ich das gut oder schlecht fand. Wahrscheinlich eher gut: Schließlich hatte niemand was davon, wenn auch die Kleinen das Gefühl bekamen, ihre Welt gehe gerade unter.
Ich sagte also lieber einfach gar nichts, schüttete ein paar Frühstücksflocken in eine Schüssel und trug sie nach oben in mein Zimmer.
»Mach mir da oben bloß keine Flecken!«, rief mir Ingrid hinterher. Sie schien nicht traurig darüber, dass ich nicht mit ihnen zusammen aß.
Ich war verblüfft, in meinem Zimmer Jaro anzutreffen. Er stand auf Zehenspitzen vor meinem Quadrum. Es war ein bisschen zu hoch für ihn aufgehängt, seine Nase reichte bis an die untere Rahmenkante.
»Geh ein Stück weiter weg oder nimm dir einen Stuhl«, sagte ich. »Ich will deinen Rotz nicht auf diesem Rahmen haben. Und, bei der Gelegenheit: Wer hat es dir erlaubt, hier einfach so reinzugehen?«
»Ich hab doch geklopft«, sagte Jaro und schaute mich aus einem grünen und einem braunen Auge an. Er war so geboren und die ersten Monate von Jaros Leben hatte mein Vater darauf bestanden, dass verschiedenfarbene Augen eine schlimme Krankheit waren, und schleppte ihn von einem Arzt zum anderen, begleitet von Mamas Lachen, die sich um Jaros Augen nicht die geringste Sorge machte. Auch ihre waren unterschiedlich. Aber bei ihr schienen ja noch mehr Sachen nicht zu stimmen.
»Und hat dir jemand nach dem Anklopfen vielleicht gesagt, dass du reinkommen darfst?«, fragte ich sauer.
»Nein, du warst ja gar nicht da.« Jaro schob friedlich meinen Stuhl an das Quadrum heran und kletterte drauf.
»Was tust du hier überhaupt?«
»Gucken«, sagte der Knirps, die Augen aufs Quadrum geheftet.
»Du hast doch ein eigenes zum Gucken!«
»Ja, das gucke ich mir auch ständig an. Aber deins ist ein bisschen anders.«
»Meins ist größer.«
»Ja, aber das ist egal. Darum geht’s gar nicht«, sagte Jaro und ich fragte mich irritiert, was er jetzt bitte schön meinte. Manchmal sagte er merkwürdige Sachen. Auf seinem Quadrum war auch ein Holzhaus, es war weiß und kleiner und schiefer als das auf meinem Quadrum, es standen gleich zwei Näpfe mit Wasser auf den Treppenstufen, die Bäume drum herum waren als Birken zu erkennen, außerdem lag auf der Veranda eine Babyrassel.
»Was ist denn nicht egal?«, fragte ich. »Dein Haus steht vielleicht an einem anderen Ort als meins?«
»Ort?« Jaro überlegte. »Nee, der Ort ist auch egal. Es ist eine andere Zeit. Mein Haus ist älter als deins.«
»Nicht umgekehrt?«, fragte ich.
»Nein.« Jaro schüttelte den Kopf und seine Locken flogen herum.
»Und hast du eine Idee, wer in dem Haus wohnt?«, fragte ich mit kindgerechter Stimme, weil ich Jaro trotz allem eine gute, fürsorgliche Schwester sein wollte, die sich gern mit ihm über seine Fantasien unterhielt. Jetzt erst recht, wo unsere Mutter nicht da war und ich versuchen musste, sie meinen Geschwistern wenigstens ein bisschen zu ersetzen.
»In dem Haus?« Jaro zögerte keine Sekunde. »Mama natürlich.«
Ich konnte gar nicht sagen, was ich so unheimlich fand an diesen Worten, die Jaro so beiläufig und felsenfest überzeugt sagte. Ich konnte plötzlich nachvollziehen, warum unsere Großmutter manchmal Angst vor Jaro und seinen Worten hatte. Ich verstand ihn nicht. Wollte ihn eigentlich auch gar nicht verstehen – hatte schließlich schon genug eigene Sorgen.
»Wie meinst du das?«, fragte ich trotzdem, aber er zuckte nur mit den Achseln.
»Und wohnt sie allein da?«, fragte ich.
»Da«, Jaro zeigte auf mein Haus, »nicht alleine. Und bei mir
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