Spiegelkind (German Edition)
von Zett wohnte, einem Viertel, das ich nur vom Namen her kannte. Auf der Stadtkarte lagen zwischen ihm und unserem Zuhause mindestens zwei normale Viertel und eine schwarze Zone, die so viel wie »unbetretbar« bedeutete.
Den Schulbus konnte ich nicht nehmen, die Fahrer achteten auf die Registrierung und ließen uns nur dort raus, wo wir auch zu Hause waren. Auf das Lyzeum gingen einige Kinder aus sehr wohlhabenden Familien und die Angst vor Entführungen war groß.
Ksü sagte ungeduldig, ich solle mir keine Umstände machen und einfach direkt mit ihr fahren. Es sei sowieso ziemlich weit und die Straße schwer zu finden.
Ich hatte immer noch das Gefühl, dass ich gegen alle Regeln verstieß. Aber es kümmerte mich jetzt weniger. Die Worte aus dem Eintrag der Suchmaschine hatten sich in meinen Gedanken festgesetzt und ließen mir keine Ruhe mehr. Wenn irgendwas daran wahr war und ich mich von meinem früheren Leben verabschieden musste, wurde es Zeit, dass ich nicht mehr nach den alten Regeln mitspielte, sondern langsam meine eigenen aufstellte.
Trotzdem wollte ich nicht darauf verzichten, zu Hause Bescheid zu sagen. So weit ging mein neuer Mut auch wieder nicht. Meine Knie zitterten schon die ganze Zeit. Ich brannte darauf, mehr über Pheen zu lesen – und hatte gleichzeitig große Angst davor.
Ich reihte mich in die übliche Schlange schwarz gekleideter Jungs und Mädchen vor dem Schultelefon ein. Ich hatte mich oft gefragt, mit wem sie alle telefonierten.
Es dauerte nicht lange, denn jeder, der dran war, sagte schnell ein paar Sätze in den Hörer und legte wieder auf. Auf der Zelle stand: »Halte deine Mitschüler nicht auf und fass dich kurz!«
»Ist das nicht ein komischer Satz?« Ksü zeigte auf das Schild und prustete los. Die anderen wendeten uns ihre Köpfe zu und ich duckte mich automatisch. Warum musste Ksü sich immer so auffällig verhalten! Schlimm genug, dass sie aussah, wie sie aussah. Vielleicht war es ihr egal, dass sie jeder für einen Freak hielt, aber mich störten die Blicke. Jetzt mehr denn je. Ich wollte am liebsten unsichtbar werden, bevor mir jeder noch die Pheentochter ansah.
Gleich darauf schämte ich mich wieder. Meine Mutter fand es daneben, jemanden nach dem Äußeren zu beurteilen. Aber wo war sie jetzt, mit ihren seltsamen Vorstellungen und dem gruseligen Pheenstatus? Warum ließ sie mich allein, nachdem sie mich so lange dumm und ahnungslos gehalten hatte?
Aber Ksü war an meiner Seite. Sie hatte mich vorhin durch ihre schnelle Reaktion vor höllischem Ärger gerettet. Und sie wollte mir weiterhelfen. Ich musste mich nur bemühen, ihre Schlange zu ignorieren. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass die mich aufmerksam anglotzte.
Nach fünf Minuten war ich an der Reihe. Ich betrat die Telefonzelle. Ksü blieb draußen.
Ich hielt mein Armband mit der Nummer vor den Scanner, der am Apparat angebracht war, und wählte die Telefonnummer von zu Hause.
Meine Großmutter ging sofort dran. Als ich ihr sagte, dass ich heute nicht gleich nach Hause kommen würde, weil ich vorher noch eine Mitschülerin besuchen wollte, schnappte sie erst mal nach Luft. Sie wollte wissen, wer das Mädchen war, wo sie wohnte, wer ihre Eltern waren und vor allem wie ich auf so eine abwegige Idee gekommen war.
»Ich bin ihre Patin und ich muss ihr helfen. Es kommt ins Zeugnis, dass ich mich fürs Lyzeum engagiere«, sagte ich möglichst sachlich, als wäre nichts dabei.
»Und du willst gleich nach der Schule zu ihr fahren?« Ingrid konnte es nicht fassen.
»Alles andere wäre ein Riesenumweg.«
Meine Großmutter holte tief Luft. Ich konnte sie fast vor mir sehen, ihre makellose Stirn faltenlos, der Mund verkniffen. »Ich kann das nicht entscheiden«, sagte sie. »Am besten rufe ich schnell deinen Vater an«, und ich brüllte in den Hörer: »Wenn du das tust … Wenn du das tust …« Ich wusste nicht, was ich dann tun würde, und während ich mir krampfhaft eine möglichst wirksame Drohung überlegte, knackte es im Telefon und eine strenge Frauenstimme sagte: »Du sollst deine Mitschüler nicht aufhalten, Juliane Rettemi! Fass dich kurz – und sprich leise.«
»Hast du das gehört?«, fragte ich Ingrid. »Ich muss auflegen, bis heute Abend.«
Und knallte den Hörer auf die Gabel.
Durch das Glas der Telefonzelle sah ich Ksü mit unseren beiden Taschen warten. Sonst war niemand da. Ich war die Letzte in der Schlange gewesen. Ich hielt niemanden auf.
Ich nahm den Hörer wieder ab und drückte ihn
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