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Spiegelkind (German Edition)

Spiegelkind (German Edition)

Titel: Spiegelkind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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ans Ohr.
    Keine Ahnung, was mich trieb. Ich gab eine sehr vertraute Zahlenreihe ein, aber es war keine Telefonnummer. Es war der Geburtstag meiner Mutter. Meine Finger schienen ein Eigenleben zu führen, es war das Blödsinnigste, was man tun konnte. Entweder es gab die Nummer irgendwo und ich hatte jetzt einen Fremden in der Leitung. Oder es gab die Nummer nicht und ich wurde, was am wahrscheinlichsten war, gerade zur Auskunft weitergeleitet. Da wollte ich eigentlich nicht hin. Aber es schien schon so weit zu sein: Es tutete in einem anderen Rhythmus, etwas knackte im Hörer und dann hörte ich eine zarte Frauenstimme:
    »Wer ist dran? Ein Kind oder ein Erwachsener?«
    Ich hatte es nicht mehr so gern, wenn man mich als Kind bezeichnete, aber dieser Stimme gegenüber wollte ich gern ein Kind sein. Außerdem war ich überrascht.
    »Kind«, sagte ich, während mir Tränen in die Augen schossen.
    »Möchtest du deine Mutter sprechen?«
    Ich spielte mit. »Oh ja, bitte!«
    »Das ist dein absolutes Recht.« Die Stimme war voller Mitgefühl. »Warte einen kleinen Moment.«
    Und dann rauschte es im Hörer, als würde Wind an einer Baumkrone rütteln, und plötzlich sagte jemand: »Juli! Mein Liebling!«
    Es war meine Mutter.
    Ich wollte erst nicht glauben, dass sie es war. Ich dachte, es handele sich um ein besonderes gutes Sprachprogramm. Ich hielt es für einen erneuten Reinfall. Ich schwieg. Ich wollte mich nicht noch lächerlicher machen.
    »Juli, warum sagst du nichts? Bist du in Ordnung? Lassen sie dich in Ruhe?«
    »Bist du das, Mama?«, krächzte ich. »Wann kommst du nach Hause?«
    »Kann noch nicht.« Die Stimme meiner Mutter klang sehr weit entfernt.
    »Du musst sofort zurückkommen!«, schrie ich.
    »Juliane Rettemi, fass dich kurz und sprich leise!«, mischte sich wieder die automatische Stimme ein.
    »Verpiss dich«, rief ich, denn mir fiel nichts Besseres ein als dieser altmodische Ausdruck, den ich vermutlich aus einem uralten 2D-Film hatte. Ich hatte Angst, dass die automatische Stimme meine Mutter aus dem Hörer verdrängt hatte. Aber sie war noch da. Ich spürte ihren Atem.
    »Wie kann ich zu dir, Mama?«
    »Willst du das?«
    »Natürlich will ich das!«
    »Du weißt nicht, wie das ist.«
    »Natürlich nicht!« Jetzt brüllte ich wieder. »Woher soll ich das auch wissen? Du hast mir nie etwas erzählt! Ich bin die Letzte, die Dinge erfährt, die mich betreffen! Deine ganze verdammte Erziehung hat nur darauf abgezielt, mich vor der Welt zu verstecken … Oder umgekehrt, die Welt vor mir …« Tränen der Wut schossen mir in die Augen. Jetzt hatte ich meine Mutter bestimmt aus dem Hörer weggebrüllt, herzlichen Glückwunsch auch.
    Aber sie war noch da. »Ja, du hast recht, genau so ist es«, sagte sie, während ich mir hektisch die Augen rieb. Fehlte nur noch, dass ich hier ganz verheult rauskam. Meine Mutter redete jetzt schneller, was gut war, denn bald würde der Apparat unser Gespräch unterbrechen, es war eigentlich längst überfällig. »Ich wollte euch beschützen, habe es aber nur schlimmer gemacht.«
    »Und jetzt? Was soll ich jetzt tun? Sag mir schnell, was ich machen muss!«, rief ich verzweifelt.
    In dem Moment knackte es und die Leitung war leer.
    Ich drückte mein Armband auf den Scanner, wählte erneut Mamas Geburtsdatum, das mir dieses kurze überraschende Glück beschert hatte, hämmerte mit der Faust auf dem Apparat herum, schüttelte den Hörer. Aber nichts passierte. In der Leitung war Grabesstille. Das Telefon war tot.
    Ich verließ die Zelle und ging zur Ecke, wo Ksü wartete. In mir tobte ein Wirbelsturm, aber ich versuchte, mich zusammenzureißen.
    »Ich glaube, ich habe das Telefon kaputt gemacht«, sagte ich betont zerknirscht, obwohl alles, woran ich denken konnte, die Stimme meiner Mutter war. Plötzlich war ich mir schon nicht mehr sicher, ob es wirklich passiert war oder ob ich es vielleicht doch nur geträumt hatte.
    »Wow!«, sagte Ksü anerkennend. »Was du alles kannst.«
    Ich versuchte ein Grinsen. Ich hatte es mal wieder total vermasselt. Auf eine seltsame Weise hatte ich es geschafft, mit meiner verschollenen Mutter zu telefonieren. Und anstatt sie zu fragen, wo sie steckte und wie es ihr ging, hatte ich sie nur angeschrien und ihr Vorwürfe an den Kopf geknallt. Ich hätte glücklich und dankbar sein sollen, dass sie lebte.
    »Alles klar?« Ksü blickte in mein Gesicht. »Alles gut zu Hause?«
    »Was?« Ich schaute sie an. Aber sie schien ganz arglos. »Ja, klar.

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