Spiegelkind (German Edition)
Irokesenschnitten und den zerrissenen Klamotten – und auch die armen Waisenkinder waren nicht normal und offenbar schon von Geburt an tätowiert.
Aber es war dann doch ein ziemlicher Unterschied, ob die flehenden, traurigen Augen einen vom Bildschirm anschauten oder direkt und unverblümt aus der unmittelbaren Nachbarschaft. Ich war schockiert. Am meisten davon, dass diese im Dreck und in der Kälte spielenden Kinder fast normal aussahen. Hätte man sie gewaschen und gut angezogen, hätten sie genauso gut im Juniorland bei uns im Viertel toben können. Und kläglich schauten sie eigentlich gar nicht drein. Sie waren fröhlich. Wie konnten sie so zufrieden sein?
Ich rüttelte an Ksüs Schulter.
»Wer sind diese Kinder? Freaks?«
»Was?«, brüllte sie zurück.
»Ich frage mich, wer diese Kinder sind?«
»Was spielt das für eine Rolle?«
»Aber sie müssen doch irgendwas sein, wenn sie hier unter solchen Umständen leben!«
Ksü drehte den Kopf und überfuhr beinah einen riesigen zotteligen Hund, der mitten auf der Straße lag und sich vom Lärm des Mopeds nicht aufschrecken ließ. Sie warf mir einen seltsamen Blick zu.
»Das sind Menschen, Juli. Menschen.« Und schaute zu meiner großen Erleichterung wieder nach vorn.
Ich schloss für einen Moment die Augen. Ich schäumte nur so vor hilfloser Wut. Meine Eltern hatten Glück, dass sie gerade nicht hier waren. Sie beide hatten mich die ganze Zeit angelogen. Meine Mutter hatte mir die wichtigste Wahrheit über sich – und mich – verschwiegen. Mein Vater hatte mich in eine Luftblase gesteckt und den Rest der Welt vor mir versteckt gehalten und merkte nicht, dass mir längst der Sauerstoff ausgegangen war.
Mein altes Ich, immer freundlich und höflich, wurde mir zu klein, es barst an den Nähten und es brach etwas durch, das auch ich war – und das mir selber wohl am meisten Angst machte.
»Wo sind wir hier?«, brüllte ich Ksü ins Ohr, und als sie »Pheendorf« antwortete, war ich komischerweise diesmal nicht mal mehr erstaunt.
»Aber sie wohnen nicht wirklich hier?«, brüllte ich zurück. Keine Ahnung, woher ich dieses plötzliche Wissen nahm.
»Ich glaube nicht!« Ksü schüttelte den Kopf. »Aber genau weiß ich es nicht. Der Name ist historisch und trotzdem findest du das Viertel auf keinem Stadtplan. Anständige Leute meiden es bis heute!« Jetzt übertönte ihr Lachen den Motor des blauen Mopeds, das über die Straßen raste, abrupt abbog, Kindern und alten Frauen auswich, die, ohne zu schauen, die Fahrbahn überquerten.
»Aber du wohnst nicht hier?«
»Nein, nein«, beruhigte mich Ksü. »Ist nur eine Abkürzung.«
Wir schossen aus diesem verwinkelten schmutzigen Nest genauso rasch, wie wir reingerast waren.
Ksüs Haus stand in einer Siedlung, wie ich sie ebenfalls noch nie gesehen hatte. Es war viel sauberer als im Pheendorf, aber dennoch wilder als bei uns. Die Wegweiser zu den Gemeinschaftsgebäuden, die bei uns allgegenwärtig waren, fehlten hier völlig. Ich sah weder ein Juniorland noch ein Schwimmcenter noch irgendwelche Markthallen. Kein Mintgrün, nirgends.
Stattdessen schmiegten sich große, alte Häuser aus Holz festlich und stolz an den Hang. Den Eindruck verdarben Ansammlungen diverser Mülltonnen, die einfach so herumstanden und offenbar lange nicht mehr gewaschen wurden. Aber immerhin trennten die Anwohner hier, den Farben der Tonnen nach zu urteilen, ihren Müll.
So alte Häuser zu sehen, war ungewöhnlich.
Sicher kannte ich historische Gebäude, alte Kirchen, die Senatsgebäude im Zentrum mit ihren hohen Säulen und riesigen Hallen, die wir im Staatskunde-Unterricht mit der Lerngruppe besichtigt hatten. Aber Wohnhäuser hatten für mich gerade Linien, waren aus Beton und hatten riesige bodentiefe Fenster, die viel Licht hineinließen.
Während ich überlegte, ob ich die Straße trotzdem mochte, huschte etwas zwischen zwei Mülltonnen hervor. Es war fast so groß wie ein Kaninchen, hatte aber einen langen nackten Schwanz. Ich brüllte, Ksü bremste. Wir waren da.
Ksü parkte ihr Moped vor dem letzten Haus in der Straße und sprang herunter. Bevor sie mir die Hand geben konnte, war ich schon mit dem Gefährt zusammen umgefallen. Im Liegen sah ich das Haus an, das mich überragte, und es kam mir besonders seltsam vor. Dann begriff ich, woran es lag. Es stand nur noch eine Hälfte des Hauses. Der hintere Teil fehlte. Die unheimlichen Brandspuren und abgerissen wirkenden Kanten verrieten, dass dieses Haus etwas Schlimmes
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