Spiegelkind (German Edition)
knabbern, den sie mit den zierlichen Vorderpfoten festhielt.
»Würg«, sagte ich. Ich schaffte es gerade noch, den Kuchen nicht zurück auf den Teller zu spucken. »Ist das eine echte Ratte?«
»Was sonst?« Ksü streichelte das Vieh zärtlich mit dem Zeigefinger. »Das ist Karamell.«
»Ist das etwa ihr Name?«
»Ja, sicher. Sie haben alle Namen.«
»Alle? Sind noch mehr da? Und laufen rum?«
»So etwa zehn. Sie schlafen im Käfig, wenn sie wollen. Sonst laufen sie frei herum.«
Mir wurde schlecht. Ich hatte schreckliche Angst vor Ungeziefer jeder Art. Ratten standen für Dreck und Krankheiten. Sie waren ein Wappentier der Freaks. Ich erinnerte mich an eine Geschichte, die Ingrid mir erzählt hatte, als ich noch klein war – wie eine Ratte ein Baby in der Wiege angegriffen hatte.
Die Vorbehalte, die ich am Anfang gegen Ksü gespürt hatte und von denen ich mich eigentlich gerade verabschieden wollte, schienen doch nicht ganz aus der Luft gegriffen.
»Aber die übertragen doch Krankheiten!«
»Die hier doch nicht.« Ksü verdrehte die Augen, um die Ratte auf ihrer Schulter anzuschauen. »Das sind Hausratten. Sie sind sauber.«
»Ich glaub, ich hab draußen eine gesehen, die war noch riesiger … War das auch eine von dir? Halten hier noch mehr Leute Ratten als Kuscheltiere?«
»Ist das so ungewöhnlich?« Ksü schaute besorgt. »Ich weiß nicht, wen du draußen gesehen hast, ich kenne natürlich nicht alle Ratten persönlich. Es gibt auch genug wilde. Aber auch sie sind in der Regel nicht aggressiv.«
»In der Regel nicht aggressiv?«, wiederholte ich schwach. »Aber gehen die nicht an euer Essen?«
»Meistens nicht«, sagte Ksü. »Sie finden auch draußen genug Futter … In den Mülltonnen … Die Wilden, meine ich. Einige Nachbarn stellen ihnen auch Futter hin. War eigentlich nie ein Problem. Obwohl, einmal hat mir jemand genau eine halbe Tafel Schokolade aus meiner Schublade weggefressen. Aber vielleicht warst es auch du, obwohl du genug Futter kriegst.« Sie drohte Karamell mit dem Zeigefinger.
Ich zerkrümelte meinen Kuchen auf dem Teller, damit es nicht so auffiel, dass ich keinen Bissen mehr essen konnte. Ksü schien es nicht zu bemerken. Sie verschwand im Flur und kam wenig später mit einem Notebook zurück. Mein Vater hatte genau so eins, aber er nahm es immer zur Arbeit mit. Es war ein echter, bestimmt ziemlich teurer Computer. Die Schulgeräte sahen im Vergleich dazu klobig und kindisch aus.
Die Ratte saß nicht mehr auf Ksüs Schulter. Ich war froh drum und gab mir Mühe, nicht allzu aufmerksam nach links und rechts zu schauen.
Mich wunderte es nicht mehr, dass Ksü sich routiniert ins Netz klickte und Mister Cortex aufrief. Wenn sie es schon auf einem Schulgerät geschafft hatte, war es bei ihr zu Hause wahrscheinlich erst recht kein Problem.
»Ich weiß nicht so schrecklich viel über das, was dich interessiert«, sagte sie bedauernd. »Hab natürlich schon hier und da einiges aufgeschnappt. Aber was wir jetzt brauchen, sind knallharte Fakten. Fragen wir mal Mister Cortex.«
Wir fragten.
Nach zwei Minuten wünschte ich, wir hätten es nie getan.
Ich versuchte, die Seite wiederzufinden, auf der ich gelesen hatte, dass Pheen, die Kinder haben wollten, sich in große Gefahr begaben. Aber die Seite war verschwunden.
Ksü hatte eine Erklärung dafür. Sie sagte, dass Mister Cortex die Suche ständig erneuere. Andere Dinge hätten diesen Treffer verdrängt, vielleicht war der Link auch komplett entfernt worden. Stattdessen stießen wir auf Hunderte von Treffern, die mit dem Wort GEFAHR begannen.
GEFAHR: Pheen sind nicht sozialisierbare Individuen, die durch ihre Eigenarten die öffentliche Ordnung stören.
GEFAHR: Der Kontakt zu einer Phee kann schlimme Folgen haben.
GEFAHR: Es wird davor gewarnt, mit einer Phee eine Familie zu gründen. Die Folgen für die aus dieser Verbindung entstandenen Kinder können verheerend sein. Im Falle einer Trennung hat die Phee keinerlei Sorgerecht und dem Vater ist bei der Verarbeitung der Situation und der Erziehung der Kinder Unterstützung in jeder Form zu leisten.
GEFAHR: Die aus solchen Verbindungen entstandenen Kinder gelten in Abwesenheit der Mutter bis auf Weiteres als normale Kinder, sind aber strenger Beobachtung zu unterziehen. Bei jeder Auffälligkeit müssen Maßnahmen ergriffen und ihr Status überprüft werden.
Ich hielt mir vor Entsetzen den Mund zu. Ksü schob mich mit dem Ellbogen beiseite.
»Glaub doch nicht jeden Schund«,
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