Spiegelkind (German Edition)
viel mehr, als sie am Anfang zugegeben hatte. Ihr letzter Satz hallte in meinem Kopf nach.
»Was meinst du damit, sie bringen sich um? Glaubst du, das ist mit meiner Mutter geschehen?« Aber ich hatte sie doch vorher noch am Telefon gehört, dachte ich, sprach es aber nicht aus. Mamas Stimme im Hörer sollte mein Geheimnis bleiben.
»Nein, natürlich nicht. Sie können es vielleicht versuchen. Aber Pheen sind bekanntlich unsterblich. Sie gehen einfach in einen anderen Zustand über.«
Ich wandte mich ab, schaute das Quadrum an der Wand an. Das Mädchen auf der Fensterbank bewegte sich nicht, meine Sorgen und Fragen kümmerten sie gar nicht.
Mir war alles zu viel. Ich sah meine Mutter vor mir, groß und schlank, irgendwie zart und kraftvoll zugleich. Dabei ging sie, anders als alle Frauen bei uns in der Straße, nie zum Sport. Sie unterschied sich schon ziemlich von ihnen und ich hatte sie immer sehr hübsch gefunden, obwohl mir immer klar gewesen war, dass nichts an ihr dem gängigen Schönheitsideal entsprach – weder ihre Figur noch ihre Frisur, von den Kleidern gar nicht zu reden. Ihre Röcke waren aus einem Stoff, der in keiner Boutique unseres Viertels zu finden war, ihre Haare waren lang und schimmerten rötlich und sie hasste Schmuck aller Art, was meinen Vater in den ersten Jahren ihrer Ehe nicht daran gehindert hatte, ihr Goldketten mit großen Anhängern und Ohrringe zu schenken, die alle später in Kassies Spielzeugkiste verschwanden.
Ich hätte es viel eher merken sollen. Nichts an meiner Mutter war normal. Dafür sollte sie jetzt unsterblich sein. Ich dachte an die Worte aus dem ersten Eintrag, dem ich plötzlich dringend glauben wollte: dass eine Pheentochter mit fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit eine Phee war.
»Bin ich dann auch unsterblich?«, fragte ich.
Ich schaute Ksü an, ihr breites Gesicht mit den funkelnden Augen, der gefährlich aussehenden Schlange auf dem Kopf, und sprang vor Schreck hoch, als eine fremde, tiefe Stimme von der Seite sagte:
»Wenn du normal bist, dann eher nicht.«
»Oh mein Gott.« Mein Herz raste vor Schreck. »Ksü, ich dachte gerade, deine Schlange hätte mit mir gesprochen!«
Er lachte, dieser junge Mann mit den grünen Augen und mondblonden Haaren, und löste sich vom Türpfosten, gegen den gelehnt er unsere Unterhaltung verfolgt hatte.
»Uiii«, kreischte Ksü, hüpfte vom Stuhl und fiel ihm um den Hals, wofür sie hochspringen und er sich trotzdem noch etwas bücken musste. »Ich hab gar nicht mitgekriegt, dass du gekommen bist. Warum hast du nichts gesagt? Warum hast du gelauscht?«
»Na, wenn ich euch vorgewarnt hätte, hätte ich wohl kaum lauschen können.« Er küsste Ksü auf beide Wangen, sah mich über ihre Schulter an und lächelte. Ich lächelte nicht zurück.
»Jetzt könnt ihr euch endlich kennenlernen!« Ksü schob den jungen Mann in meine Richtung. »Das ist meine neue Freundin. Ihre Mutter ist eine Phee.«
Ich stand langsam auf. Ja, daran musste ich mich jetzt gewöhnen. Ksüs Freundin. Tochter einer Phee.
Der Junge schaute mich aufmerksam an. Fast zu aufmerksam. Ich zwang mich, nicht wegzusehen. Stand auf und streckte ihm die Hand entgegen.
»Ich bin Juli.«
»Dachte ich mir schon. Ivan.«
Der Raum, den ich auf zitternden Beinen betrete, ist klein und stickig warm. Ein Kochtopf brodelt auf einem uralten Herd. Flammen leuchten durch die Ritze im Ofentürchen. Ich muss ruhig sein. Ich darf das kleine Kind nicht erschrecken, das auf einer Bank sitzt und sich die Augen reibt.
Großer Bruder
Ksüs Bruder Ivan war Student und ich schätzte ihn auf Anfang bis Mitte zwanzig, vielleicht auch jünger. Das konnte man wegen der mondblonden Haare, die fast grau wirkten, schlecht sagen. Er sah Ksü kein bisschen ähnlich. Er war schön.
Ich wurde verlegen, als er sich zu uns an den Tisch setzte. Ich hatte mich noch nie mit einem Mann in seinem Alter unterhalten und hatte nun das Gefühl, meine Zunge klebe schwerfällig am Gaumen. Es war, als würden uns nicht nur ein paar Jahre trennen, sondern eine ganze Generation. Fast hätte ich ihn automatisch gesiezt – aber irgendwas sagte mir, dass die beiden es ziemlich albern gefunden hätten.
»Ich habe euch unterbrochen«, sagte Ivan. Ich war ihm dankbar dafür, dass er mich nur ab und zu mit seinen lachenden Augen ansah und sich sonst mit seiner Schwester beschäftigte, die um ihn herumtanzte, als wäre er gerade von einer Weltreise zurückgekehrt.
»Willst du was von meinem wunderbaren
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