Spiegelkind (German Edition)
sagte sie. »Das sind Seiten des Ministeriums für Gefahrenabwehr. Was sollen sie auch sonst schreiben? Sie fürchten die Pheen wie der Teufel das Weihwasser.«
»Weil Pheen allgemeingefährlich sind«, flüsterte ich.
»Natürlich. So wie ein gutes Buch gefährlich ist für die öffentliche Dummheit. Mein Bruder sagt …«
Plötzlich hielt Ksü mitten im Satz inne.
»Was?«, fragte ich misstrauisch. »Was sagt dein Bruder?«
»Nichts«, sagte Ksü. »Also, eigentlich sagt er immer sehr viel, aber das tut nichts zur Sache.«
Es war das erste Mal, dass ich das Gefühl hatte, von ihr angelogen zu werden. Offensichtlich wusste sie mehr, als sie vorgab. Warum sonst blieb sie die ganze Zeit so bemerkenswert ruhig? Hätte sie nicht wenigstens ein bisschen überrascht sein müssen über das, was mir passiert war? Da stimmte irgendwas nicht.
»Bitte glaub nicht alles, was du liest oder hörst«, sagte Ksü. »Die Normalen haben Angst vor Pheen. Deswegen verbreiten sie solche Lügen. Aber es gibt noch mehr Ansichten auf der Welt. Freaks zum Beispiel beten Pheen geradezu an. Sie sagen, Pheen sind die Einzigen, die alles hier am Leben halten.«
»Wer sagt das?« Ich rümpfte die Nase.
»Freaks«, wiederholte Ksü etwas lauter.
»Das tröstet mich ungemein«, sagte ich. »Endlich mal eine richtig verlässliche Quelle.«
Freaks! Freaks mit ihren bunten, lächerlichen Frisuren. Die grundsätzlich zugedröhnte, aus einer gefährlichen Sekte hervorgegangene Schande unserer Gesellschaft. Sie arbeiteten nicht, kriegten zu viele Kinder und setzten sie aus. Es kostete die Normalität unglaublich viele Expertenarbeitsstunden, die zerstörerische Wirkung der Freaks in Schach zu halten.
Ich wusste ein bisschen mehr darüber, weil ich in Normkunde ein Referat darüber gehalten hatte, am Fallbeispiel eines Freaks, dem es gelungen war, auszusteigen und sich wieder anzupassen – ein langsamer, schmerzhafter, medikamentös begleiteter Prozess, der davon gekrönt wurde, dass der Exfreak feierlich ein ID-Armband überreicht bekam und ein normales Mitglied der Gesellschaft wurde.
Nach dem Referat hatten wir damals in unserer Lerngruppe über das Thema diskutiert. Einige Lyzeisten warfen die Frage auf, ob unser Staat nicht zu großzügig sei, jedem Individuum eine Existenzberichtigung auszustellen. Ich verteidigte das: Auch wenn es viel kostete, die Freaks zu überwachen, konnte man nicht alle sofort abschreiben. Diese liberale Einstellung war allerdings vor allem der Tatsache zu verdanken, dass der Typ aus meinem Fallbeispiel gar nicht so schlecht aussah – für einen Freak jedenfalls.
Aber von Ksüs Argumentation war ich jetzt etwas enttäuscht.
»Was spielt es für eine Rolle, wen diese gefräßige Sekte anbetet? Sie würden es ja mit jedem Außerirdischen tun.«
»Freaks sind nicht mehr eine Sekte, als die Normalen es auch sind«, sagte Ksü ruhig.
»Aber wir alle sind normal!« Wäre ich gerade nicht selber so fertig, hätte ich sicher schärfer reagiert als bloß mit einem Kopfschütteln. »Seit die Normalen die absolute Mehrheit haben, ist endlich Sicherheit und Ordnung in unser Leben gekommen. Der Staat basiert auf dem Prinzip der Normalität. Er ist von Normalen für Normale gemacht. Mein Vater ist normal. Alle Schüler und alle Lehrer auf dem Lyzeum sind normal. Ich bin normal. Du bist normal!«
»Also bei mir wäre ich an deiner Stelle nicht so sicher.« Ksü kicherte. »Aber wieso reden wir überhaupt von mir – guck dich doch an, Pheentochter!«
Ich fuhr von meinem Stuhl hoch. Das Wort war wie ein Peitschenhieb. Ksü war eben nicht gerade zimperlich – das hatte ich schon mehrmals feststellen dürfen. Aber jetzt ging sie zu weit. Es war falsch, mich ihr anvertraut zu haben.
»Ich gehe«, knurrte ich. »Mir reicht’s!«
»Aber warum denn plötzlich?« Ksü sah mich ehrlich verblüfft an.
»Ich lass mich nicht einfach so von dir beschimpfen.«
»Beschimpfen?« Ksü schaute mich weiter ratlos an. »Das würde ich nie tun. Außer vielleicht zum Spaß.«
»Pheentochter. Du hast Pheentochter gesagt.« Ich ballte meine Hände zu Fäusten.
»Oh, hast du das so verstanden?« Ksü schaute unglücklich drein. »Aber was ist so schlimm daran? Ich wäre stolz, eine zu sein.«
»So siehst du auch aus.«
»Ehrlich?« Sie war überhaupt nicht beleidigt. Das nahm mir den Wind aus den Segeln. Ich setzte mich wieder hin. »Keine Ahnung. Ich weiß schließlich nicht, wie Pheentöchter aussehen. Hab noch nie eine
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