Spiegelkind (German Edition)
hatten gerade erst angefangen zu essen.
»Ich hab noch Hunger!«, rief Jaro besorgt. Den Helm hatte er immer noch nicht anfassen können, weil Kassie damit herumhüpfte.
»Wer aufsteht, darf nichts mehr essen.« Obwohl das Gesicht meiner Großmutter glatter denn je war, hatte ich das Gefühl, sie war über diesen Nachmittag schon wieder kräftig gealtert.
»Aber Kassie ist doch aufgestanden.« Jaro heulte fast.
Kassie lachte hinter dem Visier. Ingrid sah sie an und … sagte nichts. Kassies Teller stand immer noch auf dem Tisch.
»Ich hatte dich gewarnt«, sagte Ingrid zu Jaro. »Du musst eben hören, was man dir sagt.«
Ich sah, wie verzweifelt der kleine Kerl erst die grinsende Kassie anschaute und dann unsere Großmutter und dann mich. Er wollte nicht petzen, aber er begriff die Welt nicht mehr – warum er für etwas bestraft wurde, was Kassie viel früher angefangen hatte und womit sie ungeschoren davongekommen war. Das waren Momente, in denen sich unsere Mutter früher immer mit unserem Vater in die Haare kriegte – wann immer sie das Gefühl hatte, dass einem ihrer Kinder eine Ungerechtigkeit geschah.
Ich nahm Jaros Teller und stellte ihn zurück auf den Tisch.
»Iss in Ruhe auf, Kleiner.«
Er schaute mich an. Er traute sich nicht, sich hinzusetzen und weiterzuessen. Mir fiel wieder auf, wie ähnlich er unserer Mutter sah. Jaro war ganz anders als Kassie. Kassie war sieben Minuten älter als er und niemandem aus der Familie ähnlich.
Und ich, ich sah wohl genauso aus wie unser Vater.
Ich fragte mich, ob ich auch diesen Gesichtsausdruck hatte wie er. Immer auf der Lauer, besorgt, so gut wie nie entspannt oder fröhlich. Seine Augen bewegten sich flink, einem Blickkontakt wich er meist aus, als sei er ständig unsicher, obwohl er das vielleicht auch nur vortäuschte. Wer wusste das schon?
Jaro hatte sich inzwischen hingesetzt und löffelte seine Nudelsuppe. Ich war überzeugt, dass sich mein Vater und meine Großeltern jetzt unglaublich aufregen würden, und zwar über mich, meine Einmischung und mein langes Wegbleiben. Aber ich wartete vergeblich darauf. Ingrid kaute nur auf ihrer Unterlippe herum. Reto, bis jetzt bewegungslos wie ein Stein, putzte sich mit einer Serviette die Suppe vom Schnurrbart, räusperte sich und sagte zu Jaro: »Ellbogen vom Tisch.«
Jaro nahm die Ellbogen schnell runter. Reto wandte sich Kassie zu, die sich mit ausgebreiteten Armen in der Küche drehte, als wäre sie auf der Bühne. Ich hätte mich das alles in ihrem Alter niemals getraut. Traute mich im Grunde auch jetzt noch viel weniger als sie.
»Und du, junges Fräulein …«
Kassie hielt an, strich sich kokett eine Strähne aus dem Gesicht und schien gespannt darauf zu warten, was Reto zu sagen hatte.
»Und du, junges Fräulein …«
Sie kicherte und setzte sich weiter in Bewegung, als ginge sie jetzt davon aus, dass aus seinem Mund nichts Hörenswertes mehr kommen würde.
Reto sah sich noch mal um. Jaros rechter Ellbogen berührte schon wieder die Tischplatte.
»Ellbogen vom Tisch, sagte ich!«, brüllte Reto und Kassie lachte.
Jaro sah ihn an, dann die wie ein Kreisel durch die Küche rotierende Kassie, dann mich und dann legte er auch den linken Ellbogen auf den Tisch.
Reto kaute an den Wörtern, aber sie kamen ihm nicht über die Lippen, als wäre sein Mund von Kassies Glöckchenlachen versiegelt worden.
Mein Vater, der in den vergangenen Minuten abwesend vor sich hin gestarrt hatte, griff mit zwei Fingern nach meiner Schulter.
»Ich muss mit dir sprechen, Juliane.«
»Dann tue es endlich«, schleuderte ich ihm entgegen.
Papas spitze Finger bohrten sich in meine Knochen, am liebsten hätte ich sie abgeschüttelt. Wir gingen ins Wohnzimmer und mein Vater schloss die Tür.
»Was ist das für eine Freundin, die du heute besucht hast?«
»Sie heißt Ksü«, sagte ich. »Sie ist neu am Lyzeum und ich bin ihre Patin.«
Mein Vater kniff die Augen zusammen. Ich kannte diesen leicht angewiderten Gesichtsausdruck. »Wo wohnt sie?«
»Irgendwo bei Zett«, sagte ich. »Ziemlich weit außerhalb, glaube ich. Ich kenne mich in unserer Stadt nicht aus – bin ja immer nur in unserem Viertel und auf dem Lyzeum.«
»Das ist auch völlig ausreichend«, sagte Papa barsch.
Ich saß auf der Sofakante und mein Vater schritt auf seinen langen Beinen durch das Zimmer. Ich sah mich um. Irgendwas hatte sich im Wohnzimmer so verändert, dass ich es kaum wiedererkannte. Aber was?
»Ist deine neue Freundin mit dem seltsamen
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