Spiegelkind (German Edition)
sagte.
»Du musst dich an mir festhalten«, sagte Ivan leise, aber ihn hätte ich auch durch den Lärm von tausend Motoren gehört und verstanden. Und dann setzte sich das Gefährt in Bewegung und ich hatte Mühe zu atmen und hätte auch niemals sagen können, ob Ivan den gleichen Weg zurück in die Stadt genommen hatte oder vielleicht einen ganz anderen. Bäume und Häuser rasten an mir vorbei, verschmolzen zu einem einzigen schmutzig bunten Band. Immer wieder hatte ich das Gefühl, dass das Motorrad ein bisschen über der Straße abhob, aber das musste eine Sinnestäuschung gewesen sein. Sprechen war unmöglich, worüber ich eigentlich ganz froh war.
Es dauerte höchstens eine Viertelstunde, bis Ivan das Motorrad leise und sanft vor unserem Haus abbremste. Ich kletterte aus dem Sattel. Meine Beine fühlten sich ganz steif an.
»Danke, dass du mich nach Hause gebracht hast.«
Ich konnte Ivans Gesicht hinter seinem Visier nicht sehen. Er streckte den Arm aus und berührte kurz meine Schulter und schon war er weg und ich konnte nicht einmal hinterherschauen, denn binnen Sekunden war er nicht mehr zu sehen und noch einen Augenblick später nicht mehr zu hören.
Wie in Trance ging ich ins Haus. Ich hatte ganz vergessen zu fragen, was jetzt eigentlich mit Ksüs und Ivans Eltern war.
Verbotene Kunst
Sie aßen gerade zu Abend: mein Vater, Kassie, Jaro, Ingrid und Großvater Reto. Reto war offenbar heute Nachmittag gekommen, als ich bei Ksü gewesen war. Sie saßen um den ordentlich gedeckten Tisch und aßen schweigend – jedenfalls, bis ich auftauchte.
Erst ging ich in unser kleines Gästebad – komisch, dass es noch immer so hieß. Mein Vater hatte mir mal erklärt, dass der Begriff noch aus Zeiten stammte, als man Gäste zu Hause empfing und sie sogar übernachtet hatten.
Ich wusch mir gründlich die Hände und ging dann ins Esszimmer.
Bei meinem Anblick juchzte Jaro begeistert: »Wo hast du das her? Darf ich das haben?«
Kassie sprang auf, rannte auf mich zu und begann, um mich herum im Kreis zu hüpfen, die Hand nach meinem Kopf ausgestreckt.
»Kassandra, setz dich sofort auf deinen Platz, sonst nehme ich dir deinen Teller weg«, meldete sich Ingrid zu Wort.
Mein Vater sah mich an und seine Augenbrauen rückten dichter zusammen.
»Was soll das, Juliane?«
Erst jetzt kapierte ich, dass ich immer noch Ksüs Helm trug. Irgendwie hatte ich mich zu sehr an das Aquariumgefühl um meinen Kopf gewöhnt und nicht dran gedacht, ihn Ivan zurückzugeben.
»Hab ich vergessen«, murmelte ich und nahm den Helm ab. Kassie schenkte den Drohungen unserer Großmutter keinerlei Aufmerksamkeit, steckte ihren Kopf in den Helm und schrie begeistert: »Ich bin eine Blase! Ich bin eine rote, dicke Blase!«
»Kassandra!« Reto versuchte, sie an der Hand zu packen, aber sie entwich ihm. »Hast du nicht gehört, was man dir gesagt hat?«
Jaro war die ganze Zeit sitzen geblieben. Aber nun sah er, dass Kassie nicht vorhatte, an den Tisch zurückzukehren, und stand ebenfalls zaghaft auf.
»Darf ich ihn auch ausprobieren?«
»Na klar«, sagte ich. Ich hatte meinen Bruder ein bisschen lieber als meine Schwester, vielleicht weil ich bei ihm öfter das Gefühl hatte, ihn in Schutz nehmen zu müssen. »Du darfst damit heute spielen, aber morgen muss ich ihn wieder in die Schule mitnehmen. Er gehört einer Freundin von mir. Sie kommt immer mit dem Moped zur Schule.«
Mein Vater hatte uns die ganze Zeit wortlos zugehört. Jetzt stand er auf und nahm mich an der Schulter. »Du möchtest nicht etwa sagen, dass du Moped gefahren bist?«
»Was sonst?« Ich wackelte mit der Schulter, um sie aus seinem Griff zu befreien.
»Es ist Kindern unter sechzehn normalerweise verboten, Moped zu fahren.«
»Meiner Freundin ist es nicht verboten.« Ich schüttelte die Hand ab. »Vielleicht ist sie schon sechzehn.«
»Was sind ihre Eltern von Beruf?« Mein Vater wollte sich offenbar vor dem großen Donnerwetter noch mal absichern.
Jetzt wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Deswegen probierte ich es mit »Sie ist neu am Lyzeum«. Ich war hin und her gerissen. Einerseits reagierte mein Vater genauso, wie ich es von ihm erwartet hatte. Aber ich konnte mich nicht mehr so verhalten, wie er es von mir erwartete. Wer war er nach all diesen Lügen, um mir zu sagen, was ich tun oder lassen sollte?
In diesem Moment versuchte Ingrid, an der Erziehungsfront durchzugreifen. Sie nahm Jaros Teller und stellte ihn weg, obwohl er noch ziemlich voll war – sie
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