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Spiegelkind (German Edition)

Spiegelkind (German Edition)

Titel: Spiegelkind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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Namen ein normales Mädchen?«, fragte mein Vater und hörte für einen Moment auf hin und her zu laufen.
    Ich achtete nicht auf ihn. Ich konnte nicht sagen, was in dem Zimmer hinzugekommen oder verschwunden war. Die Lampe, die Sessel, die Couch, der Tisch, alles stand an seinem Platz. Aber das Zimmer war trotzdem ganz anders geworden.
    »Keine Ahnung«, antwortete ich mit einiger Verspätung. »Sie trägt halt Hosen und darf schon Moped fahren. Und frag mich nicht schon wieder nach ihren Eltern, ich habe sie nicht gesehen. Ich hab ja auch nicht die Eltern besucht.«
    »Sie waren gar nicht da? Vernachlässigen sie etwa ihre Aufsichtspflicht?«
    Ich ignorierte seine Frage.
    »Sag mal«, sagte ich stattdessen, »wo ist eigentlich das Quadrum?«
    »Welches Quadrum?« Die Augen meines Vaters begannen plötzlich zu schielen, sie wechselten rasend schnell die Blickrichtung, wichen meinen aus.
    »Mamas«, sagte ich und stand auf. »Ich frage mich schon die ganze Zeit, warum ich unser Wohnzimmer nicht wiedererkenne. Ihr habt das Quadrum weggetan!«
    »Welches Quadrum?«
    »Jetzt tu doch nicht so!«
    Ich sprang auf und rannte zum elektrischen Kamin. Hier auf dem Sims hatte es gestanden. Es war ziemlich klein, vielleicht handflächengroß – und es zeigte einen Pfad, der in einen Wald hineinführte.
    Es war kaum zu glauben, dass dieses Zimmer jetzt komplett verwandelt war, nur weil ein winziges Quadrum fehlte.
    Jetzt stand ein anderer Rahmen da. Es war kein Quadrum. Es war eine auf Papier gedruckte Eule, sie sah nicht echt aus, aber auch nicht tot. Vielleicht irgendwas dazwischen. Auf dem Metallrahmen stand: Staatlich zugelassenes Kunstwerk Nummer 2565177.
    Ich nahm den Rahmen und warf ihn auf den Boden.
    »Juliane!« Mein Vater schnaufte. »Was erlaubst du dir!«
    »Wo ist Mamas Quadrum? Was habt ihr damit gemacht? Ihr habt kein Recht, es wegzutun!«
    »Wenn die illegale Künstlerin ihre Werke nicht an sich nimmt, hat jeder Normale das Recht und die Pflicht, sie zu vernichten!«
    »Sie ist keine illegale Künstlerin, sondern meine Mutter!«, schrie ich. »Du hast kein Recht …« Und dann hielt ich inne, weil mir klar wurde: Mein Vater hatte sehr wohl ein Recht darauf. Meine Mutter war illegale Künstlerin. Wenn die Polizei sich schon weigerte, meine Mutter zu suchen – da würde sich erst recht niemand dafür einsetzen, ihre Quadren zu schützen. Ihre verbotenen Quadren, die laut Ivan einen dazu brachten, schreiend wegzulaufen, weil sie etwas zeigten, wovor sich viele fürchteten.
    Obwohl doch immer nur der Wald zu sehen war.
    Ich rannte an meinen Vater vorbei, aus dem Wohnzimmer, die Treppe hoch, die nächste Treppe hoch, unterm Dach war Mamas Atelier. Abgeschlossen. Ich rüttelte an der Tür, warf mich mehrmals dagegen. Dann rannte ich wieder hinunter.
    »Gebt mir sofort den Schlüssel!«
    Ingrid hatte die Eule, die ich auf den Boden geworfen hatte, wieder aufgehoben und wischte gerade das durchsichtige Plastik der Vorderseite ab. Reto versuchte, mich am Oberarm festzuhalten: »Nicht so stürmisch, mein Fräulein.«
    »Rückt sofort den Schlüssel raus!«, brüllte ich. »Es sind Mamas Quadren im Atelier. Wenn sie nicht da ist, gehören sie mir. Ich werde dafür sorgen, dass ihr sie nicht anrührt. Wenn doch, dann ist das Diebstahl! Ich weiß inzwischen, wie viel sie wert sind.«
    Sie starrten mich an, mein Vater, Ingrid und Reto.
    Papa lächelte mit einem Mundwinkel.
    »Du brauchst absolut nicht so zu toben, Juliane«, sagte er ruhig. »Kein Minderjähriger kann ein Recht auf verbotene Kunst einklagen. Im Gegenteil, es ist die Pflicht eines jeden Normalen, Kinder davor zu schützen. Die Wirkung kann nämlich verheerend sein.«
    Und ich dachte sofort an die Quadren, die meine Geschwister und ich in unseren Zimmern hängen hatten.
    An den Augenbewegungen meines Vaters, daran, wie sie sich sofort zur Decke richteten, merkte ich, dass er genau das Gleiche dachte.
    »Eigentlich«, sagte er und lächelte überheblich, »bin ich verpflichtet, auch eure Quadren sofort einzuziehen.«
    Ich sah ihn an und plötzlich wurde mir klar, dass er in diesem Moment vergessen hatte, dass ich eigentlich seine Tochter war. Er suchte nach einem Mittel, um mir möglichst wirksam wehzutun. Er hatte eins gefunden.
    »Wenn du unsere Quadren anfasst«, flüsterte ich heiser, »dann sollen dir auf der Stelle die Finger abfallen.«
    Ich wusste selber nicht, warum ich das gesagt hatte. Mir hätte ja wohl kaum etwas Blöderes einfallen können.

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