Spiegelkind (German Edition)
Vater hatte sich in Rage geredet. »Hast du das Mädchen angeschaut? Das du deine Freundin nennst? Kein Mensch sieht so aus! Eine Schande ist das, in so einer provokanten Aufmachung in unser Haus zu kommen. Nie werde ich so etwas in meinem Haus dulden. Und dieser Schnösel von ihrem Bruder. Was der mir für Blicke zugeworfen hat! Nur weil er diese Universität besucht.«
Aha. Mein Vater hatte also an irgendwas erkannt, wo Ivan studierte. Es war irgendwas, wovor er Respekt hatte. Deswegen war er so freundlich zu Ivan gewesen.
Mein Vater tat mir leid. Sein Gesicht war rot angelaufen, er ballte die Fäuste, noch nie hatte ich ihn so elend gesehen. Und zugleich stieß er mich ab, mit seinem Gekeife und Geschrei. Selbst wenn er mit allem anderen recht haben sollte – irgendetwas sagte mir, dass ich einem erwachsenen Mann, der so viel Hass auf ein Mädchen meines Alters zeigte, nicht trauen sollte. Aber er war mein Vater. Ich liebte ihn und zugleich verabscheute ich ihn. Ich konnte ihm nicht mal sagen, dass Ksü sich nicht seinetwegen so zurechtgemacht hatte, dass sie ihn überhaupt nicht provozieren wollte. Sie war einfach so.
»Versprich mir, dass du den Kontakt zu ihr abbrichst«, verlangte mein Vater zwischen zwei heftigen Atemstößen. »Und wenn du denkst, ihr seid Freunde oder so – vergiss es. Sie wird dich genau in dem Moment fallen lassen, in dem du dich an sie gewöhnt hast. Genau dann, wenn du sie am dringendsten brauchst. Freaks sind unzuverlässig. Sie wird dich auslachen für dein Vertrauen.«
Ich sah in seine geröteten Augen und nickte langsam.
Wenn er mir jetzt glaubte, war er selber schuld.
Ich hatte in meinem Zimmer gewartet, bis die Zwillinge im Bett waren. Ich saß auf meinem Bett, die Augen auf das Quadrum meiner Mutter geheftet. Im Flur tobten Jaro und Kassie und Ingrid schimpfte mit schriller, hoher Stimme, weil sie schon wieder nicht auf sie hörten. Dann war Stille. Ich stand auf und lief barfuß über den Flur zu Kassies Zimmer. Mit ihr war ich noch nicht fertig. Zum Glück lag sie ausnahmsweise in ihrem eigenen Bett und nicht in Papas. Sie setzte sich sofort auf, als ich reinkam und die Tür hinter mir schloss.
Ich packte sie an den Schultern.
»Warum hast du mir nicht gesagt, dass Zero zurückgekommen ist?«
»Ich wollte es ja.« Kassies Unterlippe zitterte. »Ehrlich, Juli. Ich wusste nur nicht, wie ich es dir sagen sollte.«
»Was heißt, du wusstest nicht?«
Sie schaute mich aus ihren riesigen blauen Augen an und schwieg.
»Kam er durch das Fenster geflogen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Das Fenster war zu.«
»Aber wo ist er jetzt? Noch unter deinem Bett?«
Wieder schüttelte Kassie den Kopf.
»Hast du nicht aufgepasst? Ist er wieder abgehauen? Der Käfig ist immer noch leer, ich hab nachgeschaut. Ich habe Papa nichts gesagt, du etwa?«
Kopfschütteln.
»Sag bloß, er ist wieder weg? War das Fenster offen?«
»Er ist nicht durch das Fenster weg«, flüsterte Kassie. »Sondern so, wie er gekommen ist.«
»Was meinst du damit?«
Wir sahen uns an, meine Hand noch an ihrer Schulter. Ich wusste, was sie mir jetzt sagen würde. Das Kätzchen war schließlich auch nicht mehr da. Ich hatte es kurz allein in meinem Zimmer gelassen, als ich Ksü runtergebracht hatte. Ich hatte die Tür abgeschlossen. Danach hatte ich das Zimmer abgesucht, vergeblich. Es gab nur eine Möglichkeit, wohin es verschwunden sein konnte. Genau wie Zero jetzt. Ich wollte es eigentlich nicht hören, weil es mir unheimlich war.
»Sag schon!«, verlangte ich trotzdem. Es machte mir weniger Angst, wenn Kassie es aussprach.
»Zero ist aus dem Quadrum gekommen und ist dann wieder ins Quadrum zurück«, sagte Kassie und legte die Wange an meine Hand, mit der ich sie immer noch an der Schulter festhielt. »Sei mir bitte nicht böse. Ich hab gedacht, du glaubst mir das alles sowieso nicht.«
Das Kind scheint gerade aufgewacht zu sein. Es weint, aber als ich näher komme, hält es kurz inne und sieht mich voller Hoffnung an. Und obwohl ich selber große Angst habe, spüre ich zum ersten Mal in meinem Leben, dass es einen Schmerz gibt, der größer und wichtiger ist als meiner.
Diskrete Beseitigung der verbotenen Kunst
Am nächsten Tag machte ich mich, kaum am Lyzeum angekommen, sofort auf die Suche nach Ksü. Ich wollte nicht auf das Mittagessen warten und darauf, dass sie mich fand. Ich vermisste sie. Leider hatte ich gestern nicht dran gedacht, sie nach ihrem neuen Stundenplan zu fragen. Deswegen war es
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