Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spiegelkind (German Edition)

Spiegelkind (German Edition)

Titel: Spiegelkind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
Vom Netzwerk:
auch ziemlich aussichtslos, durch die Gänge zu streifen zwischen all den schwarzen Krähen, die gewissenhaft an mir vorbeischauten. Vielleicht hatten alle schon gehört, dass eine heimliche Pheentochter in ihrer Mitte war. Ich ging noch mal ins Sekretariat, bekam aber anstelle Ksüs Stundenplan nur die Empfehlung, mich »stärker auf Partnerschaften mit anderen Mitschülern« zu konzentrieren.
    Und je länger ich erfolglos suchte, desto öfter fragte ich mich, ob Ksü vielleicht nichts mehr mit mir zu tun haben wollte. Die Warnung meines Vaters, meine einzige Freundin werde mich genau dann sitzen lassen, wenn ich sie am stärksten brauchte, ließ sich nicht komplett verdrängen. Warnungen hatten einfach eine starke Wirkung auf mich.
    Ich rannte weiter durch die Schule, kam ins Schwitzen, guckte in fremde Klassenräume. Kurzum, ich benahm mich völlig daneben. Aber es war unmöglich, an unserer Schule jemanden zu finden. Die Uniformen verschmolzen mit den dunklen Wänden, die Gänge wanden sich unübersichtlich und alle liefen so schnell aneinander vorbei, dass man kaum Zeit hatte, in die Gesichter zu schauen.
    Ich fieberte dem Mittagessen entgegen, nicht weil ich Hunger hatte, sondern weil ich mich ohne Ksü plötzlich wie der letzte Mensch auf Erden fühlte. Ich hatte das Gefühl, ich konnte überhaupt mit niemandem mehr reden. Schon ganz einfache Wortwechsel machten mich ratlos: Es war, als wüssten meine Mitschüler plötzlich nicht, was ich meinte. Selbst wenn ich einfach nur Hallo sagte oder jemanden bat, meine Zettel an den Lernbegleiter weiterzureichen, fragten alle mit hochgezogener Augenbraue nach, als würde ich auf einmal schrecklich nuscheln. Und sie unterhielten sich untereinander über Sachen, die für mich plötzlich rätselhaft klangen.
    Jetzt, wo ich Ksü nicht finden konnte, spürte ich den Unterschied zwischen allein und zu zweit überdeutlich und schmerzhaft.
    Nach dem Gong zur Mittagspause stopfte ich meine Sachen in die Tasche und rannte, von einem Rest Hoffnung angetrieben, in die Kantine. Ich preschte durch die Glastüren, sah mich um. Der Tisch, an dem wir immer gesessen hatten, war leer.
    Ich holte mir mein Essen, stellte mein Tablett ab und begann zu warten. Lustlos stocherte ich in den Salatblättern. Die Kantine füllte sich mit schwarzen Uniformen. Es wurde laut. Ich starrte den Eingang an.
    Nach einiger Zeit kapierte ich, dass ich umsonst wartete. Ksü würde nicht kommen. Sonst wäre sie schon längst hier gewesen. Die Mittagspause war fast vorbei.
    Ich schob das Tablett weg und stand auf. Heute hatte ich Nachmittagsunterricht, aber mir war nicht danach. Es war zum ersten Mal, dass ich so gleichgültig über das Lyzeum dachte. Bis jetzt war meine einzige ernsthafte Aufgabe gewesen: zur Schule gehen, lernen, nicht weiter auffallen.
    Am Lyzeum wurde meines Wissens nicht geschwänzt, deswegen wusste ich gar nicht, welche Strafe darauf stand.
    Ich verließ das Gelände mit schnellen, entschlossenen Schritten, als hätte ich irgendwo da draußen einen wichtigen Termin. Ich hatte das Gefühl, eine solche Ausstrahlung würde das Risiko verringern, dass ich aufgehalten werde. Ich quetschte mich in einen der Schulbusse, in dem Fünftklässler heimfuhren, deren Unterricht früher endete. Sollte mir der Busfahrer den Transport verweigern, weil mein Schultag eigentlich noch nicht zu Ende war, würde ich ihm erklären, dass ich wegen Bauchschmerzen früher nach Hause musste. Wobei es nicht einmal gelogen war: Mir ging es gerade überhaupt nicht gut. Nicht mal mehr in meinem Körper fühlte ich mich heimisch.
    Der Busfahrer achtete nicht auf mich.
    An meiner Haltestelle stieg ich aus, hielt den Kopf gesenkt und setzte langsam einen Fuß vor den anderen. In der Schule wollte ich zwar nicht bleiben, aber nach Hause zog es mich erst recht nicht. Dort war Ingrid und an ihrer Gesellschaft hatte ich immer weniger Freude.
    Ein ungewohntes Geräusch riss mich aus den Gedanken. Ich sah auf, dann rannte ich los.
    Vor unserem Haus stand ein schwarzes Auto mit laufendem Motor. Es war ziemlich groß und bullig. Die Aufschrift »Vitaminreiche Getränke« schräg über die ganze Seitenfläche passte nicht recht. Überhaupt: Unser Getränkelieferant war ein anderer. Er fuhr den violettfarbenen Schriftzug »Alles zu Ihrem Besten« spazieren. Mein Vater wechselte nicht gern Marken. Firmen wechselten nicht gern ihre Logos. Das Streben nach Stabilität war die Kraft, die die Gesellschaft der Normalität

Weitere Kostenlose Bücher