Spiegelschatten (German Edition)
gefragt. Die Stimme war wieder in seinen Kopf eingedrungen, wo sie seine geheimsten Gedanken lesen konnte, als hätte er sie vor ihr ausgebreitet.
Was er niemals tun würde.
Lieber würde er sterben.
Sie war ein Parasit. Nährte sich von seiner Energie.
» Ohne mich«, sagte er entschlossen, » würde es dich überhaupt nicht geben.«
Umgekehrt wird ein Schuh daraus.
Sie war größenwahnsinnig.
Gefährlich.
Er wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben.
Außerdem hasste er ihre Art zu sprechen.
» Ich bin kein Schuhmacher«, sagte er.
Als sie lachte, versuchte er, sich woandershin zu denken. Er konnte ihren Hohn nicht ertragen, ihre Verachtung, ihre Kälte. Doch natürlich ließ sie ihm das nicht durchgehen.
Ich bin in dir. Du kannst nicht vor mir weglaufen.
Nirgendwohin.
Denn du nimmst mich immer mit.
Verdammte, verfluchte Scheißstimme! Sie ließ ihm keinen Raum, nicht mal in seinen Gedanken.
DeinenGedanken? Deinen?
Was wollte sie …
» Was willst du damit sagen? Dass es gar nicht meine Gedanken sind, die ich denke?«
Und wenn es so wäre?
» Dann bringe ich dich um!«
Diesmal war ihr Lachen beinah heiter. Es perlte förmlich aus seinem Kopf. Er konnte es spüren wie ein Prickeln. Überall.
Du glaubst, du hast Macht über mich?
Sie lachte weiter, und allmählich wurde ihr Lachen wieder, wie es meistens war. Hässlich und gemein.
» Und wenn ich mich umbringe?«, fragte er listig und genoss die Pause, die auf seine Worte folgte.
Wenn er sich das Leben nähme, würde die Stimme dann nicht mit ihm sterben?
Ein wüster Schmerz fuhr in seinen Kopf.
Dann in seine Brust.
Er rang nach Luft.
Na? Wie gefällt dir das?
Du glaubst, du könntest mir gefährlich werden? Du?
Nein, das konnte er nicht. Alles in ihm klammerte sich an das Leben. Jeder Schmerz zeigte ihm deutlich, dass er kein Held war.
Ich war immer bei dir und werde immer bei dir sein. Du kanntest mich schon, bevor ich zum ersten Mal zu dir gesprochen habe.
Ich werde dich niemals verlassen, hörst du? Niemals.
28
Schmuddelbuch, Donnerstag, 10. März, acht (!) Uhr
So früh war ich noch nie in der Redaktion. Dabei hätte ich auch später losfahren können, denn Ingo hat mir einen Schlüssel gegeben. Aber irgendwie war der erste gemeinsame Morgen (wie sich das anhört!) genau richtig so.
Greg hat nur einen bedeutsamen Blick mit mir getauscht.Wir haben abgemacht, dass wir uns in der Redaktion, wo jeder alles mitkriegen kann, möglichst nicht über Björn und Maxim unterhalten.
Ich frage mich, ob der Mörder bereits bemerkt hat, dass Björn verschwunden ist. Und wie er darauf reagieren wird.
Ob er mich beobachtet?
Müsste ich meine Stimmung malen, würde ein Bild mit lauter Augen entstehen. Graue, blaue, grüne und braune Augen.
Das größte Auge aber wäre rot.
Ein Psychologe hätte bestimmt eine Erklärung dafür.
Romy betrat den Dom und fühlte wieder, wie sie angesichts der machtvollen Architektur kleiner wurde. Das begann schon draußen, wenn sie sich dem Dom näherte und er immer weiter in den Himmel wuchs.
In seinem Schatten wurde sie demütig.
Und in seinem Innern still.
Sie hatte ihn schon so oft besucht und wurde jedes Mal aufs Neue berührt.
» Im Dom«, hatte Bruno Jessen vorgeschlagen. » Vorm Richter-Fenster.«
Zweierlei hatte sie gewundert: dass einer, der Slam Poetry schrieb, sich in einer Kirche verabredete und dass er das Fenster von Gerhard Richter als Treffpunkt gewählt hatte, den Ort, den sie selbst immer zuallererst besuchte.
Romy war eine halbe Stunde vor dem vereinbarten Termin erschienen. Sie setzte sich auf eine der Bänke und betrachtete, was der Künstler da geschaffen hatte.
Die Sonne schien und die Farben leuchteten Romy mitten ins Herz. Hier fand sie Trost, wenn sie traurig war. Hier konnte sie über ein Problem nachdenken. Hier löste sich jede Schreibblockade wie von selbst.
Irgendwie gefiel es ihr nicht, diesen Ort mit einem beruflichen Treffen zu entzaubern, aber Bruno Jessen hatte keine Alternative akzeptiert.
Vielleicht liebte er das Fenster ebenfalls?
Manchmal betete Romy hier sogar. Nicht zu einem Gott, der im Himmel lebte oder in einer Kirche oder in den Köpfen der Menschen. Sie betete zu etwas Unvorstellbarem. Unaussprechlichem. Zu einer heilenden Kraft, die sie oft bitter nötig hatte. Und eigentlich war es auch gar kein Beten, sondern eher ein Denken an etwas Großes, Sanftes, Gutes, dem sie sich verbunden fühlte.
Heute saß sie einfach nur da und schaute auf die
Weitere Kostenlose Bücher