Spiegelschatten (German Edition)
Farben.
Touristen liefen mit ihren Kameras umher, flüsterten miteinander, zündeten Kerzen an, sanken erschöpft auf eine Bank. Romy wünschte sich so sehr, den Dom einmal ganz für sich allein zu haben. Ein Herzenswunsch. Unerfüllbar, wenn man nicht gerade ein Staatsoberhaupt war.
Jemand tippte ihr von hinten auf die Schulter. » Romy?«
Er trage eine Mütze, hatte Bruno Jessen als Erkennungsmerkmal angegeben, ohne zu bedenken, dass die Hälfte der jungen Leute auf der Domplatte Mützen oder Kappen trugen.
Doch Romy hatte ihre Hausaufgaben gemacht. Sie hatte Fotos von einem Poetry Slam ausgegraben und war fündig geworden. Deshalb erkannte sie ihn auf Anhieb, wobei seine Mütze durchaus hilfreich war.
» Hallo, Bruno«, sagte sie.
Er ließ sich neben ihr nieder und betrachtete die bunten Quadrate, die Gerhard Richter nach dem Zufallsprinzip angeordnet hatte. Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht.
» Zweiundsiebzig Farben«, sagte er leise. » Aber gefühlt sind es Hunderte, nicht?«
Dasselbe dachte Romy jedes Mal.
» Ja«, sagte sie. » Kannst du verstehen, dass dieses Fenster so eine hitzige Debatte ausgelöst hat? Dass es noch heute Menschen gibt, die nur mit Abscheu oder Wut davon sprechen?«
Bruno nickte. » Meine Eltern zum Beispiel. Für die müssen auf einem Kirchenfenster Engel und Heilige zu sehen sein. Szenen aus der Bibel, das Letzte Gericht, arme Seelen im Fegefeuer.«
» Vater, Sohn und Heiliger Geist«, ergänzte Romy.
Bruno grinste. » Ich war lange nicht mehr hier«, sagte er dann. » Deshalb war mir ein Treffen in Köln lieber als in Bonn.«
Und dann schwiegen sie. Und schauten.
Bis Bruno schließlich sagte: » So. Meinetwegen können wir.«
Draußen war das morgendliche Leben in den Straßen erwacht. Pflastermaler waren bei der Arbeit, Schmuckhändler hatten ihre Stände aufgebaut, Straßenmusikanten Position bezogen. Inlineskater schlängelten sich durch die Menge. Ein Mann hielt eine Rede, der niemand zuhörte. Ein Zauberer schwang seinen Zauberstab.
Und eine Taube kackte Bruno auf die Schulter.
» Was genau möchtest du wissen?«, fragte er, nachdem er sein verknittertes Sakko notdürftig gesäubert hatte.
Romy hatte ihn in ein Straßencafé in der Breite Straße eingeladen. Auf dem Weg dorthin hatten sie einander ein bisschen kennengelernt. Romy konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass er ein Serienmörder sein sollte.
» Ich recherchiere in den Mordfällen, die seit Tagen Köln und Bonn in Atem halten. Das hab ich dir ja schon erzählt.«
» Ehrenwert«, sagte er, » aber was hab ich damit zu tun?«
» Du kennst meinen Bruder. Björn.«
» Ich kenne viele.«
» Kanntest du auch die Mordopfer?«
» Flüchtig.«
» Sicher?«
» Sag mal, was wird das? Ein Verhör?«
Er schien hellhörig zu sein. Vielleicht brachte ihn genau das zum Schreiben. Romy konnte sich seine Gedichte vorstellen. Bestimmt waren sie zornig und voller Poesie.
» Ich habe Angst um Björn«, erklärte sie ihm. » Die Toten waren seine Freunde, und es ist sehr wahrscheinlich, dass der Mörder…«
» …jemand ist, der sich im Leben deines Bruders und in seinem Umfeld bewegt.«
» So ist es.«
Die Fragen, die Romy sich zurechtgelegt hatte, erschienen ihr plötzlich abwegig. Bruno kannte Björn nur oberflächlich, ebenso, wie er die Toten offenbar kaum gekannt hatte. Und so, wie er sich gab, offen, klug und selbstbewusst, ließ er jede Mordtheorie einfach in der Luft verpuffen.
Außerdem liebte er das Richter-Fenster. Extra seinetwegen war er nach Köln gekommen. Dabei hätte er es doch viel bequemer haben können, wenn Romy ihn in Bonn aufgesucht hätte.
» Ich fürchte, ich kann dir nicht helfen«, sagte er. » Björn und ich haben uns ab und zu unterhalten, das war alles.«
» Hat sich sowieso… von selbst erledigt.« Romy lächelte Bruno unsicher an. » Ich hätte auf Björn hören sollen. Er fand es absurd, dich auf die Liste der möglichen Verdächtigen zu setzen. Und jetzt, nachdem ich dich getroffen habe, gebe ich ihm recht.«
Bruno nahm einen Schluck von seinem Cappuccino und zupfte leicht verlegen an seiner Mütze.
» Aber hast du vielleicht irgendwas gehört oder gesehen?«, fragte Romy ihn. » Ich meine, es gibt doch jede Menge Klatsch an den Unis, vor allem, wenn etwas derart Dramatisches passiert.«
» Die einhellige Meinung in Bonn ist, dass der Mörder Schwule hasst.«
» Wie in Köln.« Romy nickte. » Aber ist es nicht seltsam, dass man lange suchen muss,
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