Spiegelschatten (German Edition)
werden.
*
Wie konnten sie es wagen!
Statt sich ängstlich in ihren Löchern zu verkriechen, kamen sie heraus und stellten sich zur Schau. Statt sich zu schämen, trugen sie stolz ihre Solidarität vor sich her.
Solidarität!
Es wäre ihm ein Leichtes, ihnen ihre lächerliche Solidarität um die Ohren zu hauen.
LEONARD WINTER .
ERIK SAMMER .
TOBIAS SATTELKAMP .
Nur diese drei Namen. Jeder auf einem eigenen Transparent.
Wirkungsvoll, das musst du zugeben, sagte die Stimme, die ihn schon so lange quälte. Sie war stärker geworden von Jahr zu Jahr. Er hatte sich daran gewöhnt, dass er sie hörte, aber er würde es niemals akzeptieren.
Und so was lässt du dir bieten?
» Halt die Klappe!«, zischte er. » Sei still!«
Er schwankte unter dem Ansturm der Beschimpfungen, die auf seine Worte folgten. Den Blick fest auf die unzähligen Körper gerichtet, die sich im Innenhof der Uni drängten, versuchte er, der Stimme die Stirn zu bieten. Was nicht einfach war bei der großen Stille, die in der Luft lag.
Niemand hielt eine Rede.
Niemand sagte auch nur ein Wort.
Sie standen einfach beieinander.
In seinem Innern tobte der Tumult.
Sie tanzen dir auf der Nase herum und du schaust tatenlos zu! Großartig, wirklich großartig! Bist du denn zu gar nichts nütze?
Etwas in ihm wimmerte.
Die Stimme brüllte seine Angst nieder.
Du wirst das in Ordnung bringen! HAST DU VERSTANDEN ?
Ja! Ja! Ja!
Er würde alles tun, was sie wollte.
Alles.
*
Bei hundertfünfzig hatte Romy aufgehört zu zählen und sich dem langen Zug derer angeschlossen, die den drei Transparenten folgten, die von Björn, Josch, Eileen und drei anderen getragen wurden, die sie nicht kannte.
In einer stillen Prozession zogen sie zum Alten Rathaus. Vorbei an Menschen, die ihnen Platz machten, neugierig auf die Transparente starrten, miteinander tuschelten und dann zögernd weiter ihren Geschäften nachgingen. Vielen war klar, was der Marsch bedeuten sollte. Andere würden es später durch die Medien erfahren.
Im Innenhof der Uni hatte Maxim dabei geholfen, weiße Rosen an die Teilnehmer der Feier zu verteilen. Da sie jedoch auf so viele nicht gefasst gewesen waren, hatten sie nicht für alle gereicht. Da war Maxim auf die Idee gekommen, aufgebauschte weiße Papiertaschentücher auszugeben. Sie sahen in den Händen der Leute aus wie große weiße Blüten.
» Weiß«, sprach Romy leise in ihr Diktiergerät. » Heute ist es für alle, die sich hier versammelt haben, die Farbe der Trauer.«
Selbst die Stimmen der Marktfrauen verstummten, als der Zug sich an den Ständen entlangbewegte. Für einen Moment schien alles den Atem anzuhalten.
Zu Füßen der zweiflügeligen Rathaustreppe stand je ein Korb mit Teelichtern. Jeder Teilnehmer zündete ein Teelicht an und stellte es auf einer der Stufen ab. Nach einer Weile war jeder Quadratzentimeter mit flackernden Lichtern bedeckt.
» Jedes dieser Lichter brennt für die Toten«, diktierte Romy. » Jedes dieser Lichter ist eine Absage an Intoleranz und Gewalt. Jedes einzelne Licht ist eine Anklage, die keine Worte braucht.«
Sie hatte den Ausdruck in Björns Gesicht gesehen, der Trauer, Trotz und Stolz gespiegelt hatte. Und die Entschlossenheit, die in schwierigen Situationen so typisch für ihn war.
Mein Bruder, hatte sie gedacht.
Der Mensch, mit dem sie von Beginn an zusammen war.
Ihr inneres Spiegelbild.
Jemand berührte sie am Arm und riss sie aus ihren Gedanken. Als sie sich umdrehte, blickte sie Ingo in die Augen.
» Intoleranz und Gewalt…«, wiederholte er ihre Worte, diesmal ganz ohne seinen gewohnten spöttischen Unterton.
Es überraschte Romy nicht, ihm hier zu begegnen. Es war klar, dass er sich das Spektakel nicht entgehen lassen würde. Sie wartete darauf, dass er weitersprach. Doch er verfolgte stumm, wie einer nach dem andern nach vorn ging und ein Licht entzündete.
Nachdem auf den Stufen kein Platz mehr war, wurden die Teelichter am Fuß der Treppe abgestellt. Glücklicherweise hatten sie genügend davon besorgt.
» Was meinst du«, raunte Ingo Romy ins Ohr, » ist der Mörder unter uns?«
Seine Frage setzte die Ängste, die sie mühsam zu beherrschen versuchte, wieder frei. Der Täter würde sich die Gesichter einprägen. Vor allem die Organisatoren würde er sich merken.
Josch. Eileen.
Und Björn.
Sie ließ den Blick über die Menge wandern. All diese Menschen waren gekommen, um ein Zeichen zu setzen gegen Ausgrenzung und für Toleranz und Offenheit.
Und diesem Mörder
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