Spiegelschatten (German Edition)
die Stirn zu bieten.
Oder ihn zu reizen, dachte Romy.
Ihr wurde schlecht, als sie den Gedanken zu Ende dachte.
Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass Ingos Hand noch immer auf ihrem Arm lag. Romy bewegte sich nicht und hoffte, er würde sie nicht wegnehmen. Auf diese Weise fühlte sie sich nicht so allein.
Und auch ein bisschen getröstet.
Verwundert runzelte sie die Stirn. Mit diesem Gefühl hatte sie nicht gerechnet. Erst recht nicht mit dem Bedürfnis, das sie in diesem Moment überkam: Sie wünschte sich, Ingo würde den Arm um sie legen und sie an sich ziehen.
Erschrocken wich sie ein Stück zur Seite und Ingos Hand glitt von ihrem Arm.
*
Maxim merkte, wie stolz er auf Björn war. Doch seine Angst war stärker.
Was, wenn der Mörder genau hier zuschlagen würde? Jetzt, in diesem Moment. Was, wenn er sich etwas ganz Spektakuläres ausgedacht hatte?
Einen Sprengstoffanschlag.
Was, wenn er einfach ausrastete und wild um sich schoss?
Er könnte einen Molotowcocktail werfen. Handgranaten.
Oder mit einem Auto in die Menge rasen.
Aber er ist kein Selbstmordattentäter, beruhigte Maxim sich, kein Amokläufer. Er plant seine Morde und setzt sie dann kaltblütig um. Wäre es nicht so, wäre ihm auch nur ein einziger Fehler unterlaufen, hätten die Bullen ihn sich längst gekrallt.
Er wird nicht die Nerven verlieren.
Eine Sekunde später versetzte ihn dieser Gedanke, der ihn zunächst beruhigt hatte, in Panik. Wenn der Täter die Nerven behielt, wie würde er dann auf das hier reagieren?
Maxim schaute in die ernsten Gesichter. Genau so, wie er sich jedes dieser Gesichter einprägen konnte, war das auch dem Mörder möglich. Er würde hier neue Opfer finden.
Es war, als wären sie alle aus dem Dunkeln heraus plötzlich ins helle Scheinwerferlicht getreten.
Verdammt, dachte Maxim und merkte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Verdammte, blöde, verfluchte Scheiße!
Am Rand der Menge war ihm der Kommissar aufgefallen. An einer anderen Stelle hatte er Romy entdeckt.
Und wo bist du, Mistkerl?
Der Mörder konnte sich hinter jedem verstecken. Er konnte einen Anzug von Boss tragen oder speckige, zerschlissene Jeans. Konnte älter sein oder jung. Aus Bonn stammen oder von anderswo.
Er konnte sein Äußeres verändern, mit Perücken arbeiten und mit Schminke. Vielleicht kam er vom Theater und hatte die Fähigkeit, sich eine künstliche Nase oder ein künstliches Kinn zu modellieren. Vielleicht kannte er sich aus mit falschen Augenbrauen und künstlichen Zähnen.
Ein Chamäleon.
Maxim hatte Filme gesehen, in denen solche Mörder mit den Bullen Katz und Maus spielten. Und hatten Geschichten nicht immer einen wahren Kern?
Das Schweigen ringsum war tief.
Und groß.
Nichts hatte neben diesem Schweigen Platz. Kein Autofahrer hupte. Kein Rettungs-, Polizei- oder Feuerwehrwagen raste mit angeschaltetem Martinshorn vorbei. Kein Flugzeug war am Himmel zu hören.
Nicht mal ein Hund bellte.
Maxim stand inmitten dieses Schweigens und wagte kaum zu atmen. Er war erleichtert, als die Ersten sich bewegten, ihre Rose auf dem Boden ablegten und langsam davongingen.
*
Endlich war es vorbei.
Er hatte sämtliche Gesichter gescannt , wie er es für sich nannte. Andere bezeichneten seine Unfähigkeit, einmal Gesehenes wieder zu vergessen, als fotografischesGedächtnis . Selbst die unwesentlichsten Details einer Szene oder eines Bilds prägten sich ihm ein, und er wurde sie nicht mehr los. Er hatte das immer als Fluch betrachtet. Heute jedoch erschien ihm diese Fähigkeit wie ein Segen.
Er würde es ihnen zeigen, einem nach dem andern.
Der Hass verbrannte ihn von innen. Doch er zwang sich, stehen zu bleiben, mitten unter ihnen, und Hass und Abscheu auszuhalten.
Er beobachtete die Leute, wie sie sich abwandten und die Versammlung verließen. Manchmal zertrat ein Schuh unabsichtlich eine der weißen Blüten auf dem Boden. Dann spürte er eine unbändige Freude, eine tiefe Genugtuung, die ihn beinah in ein befreites Gelächter hätte ausbrechen lassen.
Aber er hielt sich zurück.
Noch.
Seine Zeit würde kommen.
Früh genug.
15
Schmuddelbuch, Samstag, 5. März, elf Uhr fünfzehn, Diktafon
Still und in sich gekehrt verlassen sie die Abschiedsfeier, nachdem sie Leonard, Sammy und Tobias neben einem Licht auch eine Blume dagelassen haben. Immer noch ist es wie bei Dornröschen– das Leben scheint verstummt, mitten in der Bewegung angehalten.
Aber wer ist der Prinz, der Dornröschen wachküsst und alle aus der Versteinerung
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