Spiegelschatten (German Edition)
Er stopfte alles wahllos hinein und zurrte den Reißverschluss zu.
Jetzt für ein, zwei Stunden aufs Wasser, das würde Wunder wirken.
Josch war Mitglied im Ruderverein und unterbrach sein Training auch im Winter nicht. Wenn der Kessel zu viel Druck aufbaute, musste er Dampf ablassen, und nirgends war das besser möglich als beim Rudern.
Er warf einen Blick aus dem Fenster. Der Himmel war bewölkt, doch es sah nicht nach Regen aus. Als er in die Küche ging, um sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank zu nehmen, saßen Rolo und Carmen am Tisch, konzentriert über ihre Laptops gebeugt.
» Willst du weg?«, fragte Rolo, ohne aufzusehen.
» Jepp«, antwortete Josch und hielt die Luft an. Irgendwas im Kühlschrank stank ganz gewaltig.
Er griff nach einer Flasche und drückte die Tür schnell wieder zu. Sollten die beiden sich darum kümmern. Er war es leid, ständig hinter ihnen herzuputzen.
Es war angenehm gewesen, in einer WG mit Rolo zu wohnen. Seit der jedoch Carmen angeschleppt hatte, fand Josch das Zusammenleben manchmal recht schwierig. Ständig klebten sie aneinander und vermittelten ihm das Gefühl, zu stören.
Er wusste, dass sie das nicht beabsichtigten und dass er selbst es war, der sich Probleme mit ihrer engen Zweisamkeit machte. Die Erkenntnis änderte jedoch nichts daran, dass er sich in ihrer Gegenwart häufig wie das fünfte Rad am Wagen fühlte.
Carmen war blond und mager und passte so gar nicht in ihren dunklen, üppigen Namen. Sie äußerte jeden Gedanken, der ihr in den Kopf kam, und füllte die Wohnung mit ihrem Gerede über Gott und die Welt. Aber Josch war sich nicht darüber im Klaren, ob er sie überhaupt noch objektiv betrachten konnte.
Mit Mädchen wie Carmen kam er einfach nicht zurecht.
» Ruderst du wieder?«, fragte sie in einem Ton, der verriet, dass sie diesen Sport für reine Zeitverschwendung hielt.
» Jepp«, entgegnete Josch wieder.
» Kannst du auch in vollständigen Sätzen sprechen?«, fragte Carmen pikiert und richtete den Blick ihrer farblosen Augen auf ihn.
» Kann er«, sprang Rolo ein.
» Will ich aber nicht«, ergänzte Josch.
Carmen seufzte theatralisch und widmete sich wieder ihrem Laptop.
» Du kannst mein Auto haben«, sagte Rolo. » Der Schlüssel liegt irgendwo in meinem Zimmer. Der Wagen steht ein paar Meter die Straße runter.«
» Thank you so much.«
In Carmens Gegenwart konnte Josch nicht anders, da sprach er entweder gar nicht oder er ging hinter einer Mauer aus Albernheit und Ironie in Deckung. Er wusste, dass er sie damit rasend machte, und das gefiel ihm.
Carmen hatte sich auch in Rolos Zimmer ausgebreitet. Überall lagen ihre Klamotten und Schminkutensilien herum. Den Autoschlüssel fand Josch schließlich auf dem Schreibtisch, halb unter einem Kamm mit gewaltigen Zinken versteckt, in dem etliche von Carmens Haaren hingen. Mit spitzen Fingern zog er den Schlüssel hervor und fühlte, wie sich eines der langen blonden Haare um seine Hand schlängelte.
Fluchend schüttelte er es ab.
Auf dem Weg durchs Treppenhaus fragte er sich wieder, wieso Rolo sich ausgerechnet für Carmen entschieden haben mochte, wo die Welt doch voller wirklich netter Mädchen war. Weil er sie eben liebt, gab er sich selbst die Antwort und nahm sich zum hundertsten Mal vor, ein bisschen mehr Geduld mit Carmen zu haben.
Im Treppenhaus hingen lauter Aquarelle mit fröhlichen Landschaften an den Wänden. Auf den Fensterbänken standen Töpfe mit künstlichen Blumen.
» So hat man immer etwas Blühendes vor Augen«, hatte die Vermieterin ihnen erklärt, als sie die Zweizimmerwohnung damals besichtigt hatten.
Sie gab sich große Mühe, das Haus jeweils passend zur Jahreszeit zu dekorieren. Seit ein paar Tagen waren die verstaubten künstlichen Christsterne verschwunden und hatten frischen künstlichen Frühjahrsblumen Platz gemacht, Schneeglöckchen, Krokussen, Osterglocken und Tulpen und alle täuschend echt.
Es schüttelte Josch, wenn er die leblose Farbenpracht sah. Es kam ihm so vor, als würde auch die Vermieterin ein künstliches Leben führen, das zwar den Anschein echten Lebens erweckte, darunter jedoch hohl war und tot.
Ihr Mann hatte an der Außenfassade des Hauses einen Fahnenmast anbringen lassen, an dem er zu besonderen Anlässen die Deutschlandfahne hisste. Josch hätte ihn gern einmal gefragt, warum er das tat, aber er war, seit sie hier wohnten, noch nie mit ihm ins Gespräch gekommen. Man sah ihn ganz selten.
Als wär auch er nur nachgemacht,
Weitere Kostenlose Bücher