Spiegelschatten (German Edition)
dachte Josch. Und vielleicht wohnen Rolo und ich auch überhaupt nicht wirklich hier. Vielleicht ist das alles bloß eine Vorstellung von irgendwem und wir spielen darin unsere Rolle.
Er hatte manchmal Angst, verrückt zu werden.
Deshalb knallte er sich mit Aktivitäten voll. Um zu spüren, dass er lebte. Handeln konnte. Gesund war.
Auch wenn ihn die gegenwärtige Situation erdrückte.
Jemand hatte sich vorgenommen, Schwule auszuradieren.
Und Josch passte in sein Beuteschema.
So lange konnte er gar nicht rudern, dass es seinen Herzschlag beruhigen würde.
*
Tu es! Jetzt!
Oh ja. Er würde es tun. Aber anders, als die Stimme es wollte. Ganz anders.
Er hatte sämtliche Daten im Kopf. Wusste, wann er wen wo erwischen würde.
Es war so lachhaft einfach.
Man musste sich bloß für ein Opfer entscheiden und eins und eins zusammenzählen.
Die meisten Menschen verhielten sich wie ein Uhrwerk. Das war äußerst hilfreich. Sie hatten ihre festen Gewohnheiten, von denen sie kaum einmal abwichen. Das galt sogar für Studenten, die doch wesentlich mehr Freiheit in der Gestaltung ihres Tagesablaufs hatten.
Insbesondere in den Semesterferien. Es sei denn, sie jobbten nebenher.
Oder trieben Sport.
Er grinste von einem Ohr zum andern, als er sich bewusst machte, was er im Begriff war zu tun: Diesmal würde er nicht gehorchen. Diesmal hatte er sein Opfer selbst ausgewählt. Diesmal würde er sich nicht reinreden lassen. Da konnte die Stimme ihm drohen, so viel sie wollte.
Ich habe dir ausdrücklich…
Lalala, dachte er, lalalalala …
HÖR MIR ZU !
Alles in ihm wollte losprusten. Doch das wagte er nicht. Lenkte sich ab, damit es ihm nicht doch passierte.
Lalalalalaaa …
Lass das! Ich BEFEHLE dir…
Laaalaaa …
Sie würde ihn bestrafen, doch darüber wollte er jetzt nicht nachgrübeln.
Er hatte sich ein winziges Stück Freiheit zurückgeholt.
Und auch, wenn die Stimme sie ihm wieder nehmen würde, war es doch wundervoll, für eine Weile davon zu kosten.
19
Schmuddelbuch, Montag, 7. März, vierzehn Uhr fünfundvierzig, Diktafon
Bin auf dem Weg nach Bonn. Werde bei den Maltesern vorbeischauen, um mich mit dem Typen zu unterhalten, der am Freitag mit Tobias Dienst hatte.Vielleicht können mir auch die übrigen Kollegen noch etwas erzählen.
Ich lasse mich nicht mundtot machen.
Jetzt erst recht nicht!
In der Redaktion habe ich nichts von der Botschaft erzählt, um keine schlafenden Hunde zu wecken. Greg würde mir sofort verbieten, weiterzumachen. Dabei geht es längst nicht mehr um meine Recherchen oder ums Schreiben.
Es geht um Björn.
Vielleicht ist es das, was den Mörder stört– dass ich persönlich in die Sache verwickelt bin.
Er will Öffentlichkeit. Deshalb ist ihm die Presse, die über seine Taten berichtet, willkommen. Es reicht ihm nicht aus, zu töten. Es ist für ihn immens wichtig, dass die Welt von seinen Morden erfährt.
Was er jedoch nicht will, was einer wie er unter keinen Umständen dulden kann, ist ein Journalist, der die Vorteile seines Jobs dazu nutzt, ihn aufzustöbern.
Während ich fahre, behalte ich den Rückspiegel im Auge.Aber mir fällt kein Wagen auf, der länger als nötig hinter mir bleibt. Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass er in der Nähe ist.
Verfolgungswahn, sagt mein Verstand. Noch hat der Mörder nur am Rande Interesse an dir.
Was sich jederzeit ändern kann, antwortet mein Gefühl.
Die zwei liegen sich wieder mal in den Haaren.
Ich höre auf keinen von beiden und gebe Gas.
Sobald er auf dem Rhein war, ging es Josch besser. Die Ufer zogen an ihm vorbei, am Himmel türmten sich weiß und grau die Wolken, und das gleichmäßige, sanfte Geräusch, das entstand, wenn die Blätter der Skulls in die Wasseroberfläche eintauchten und wieder daraus hervorkamen, geriet in Einklang mit seinem Herzschlag.
Er überließ sich ganz den Bewegungen und der Kraft seines Körpers. Den Lauten auf dem Wasser und an Land. Behielt alles im Blick. Jeden Kahn, der ihm begegnete. Jede Gestalt an den Ufern.
Bald fing er an zu schwitzen und seine Armmuskeln schmerzten, die Strafe dafür, dass er das Training in letzter Zeit ein wenig vernachlässigt hatte. Er reduzierte das Tempo, sein Atem wurde ruhiger und Josch fand den Rhythmus, der heute gut für ihn war.
Wie oft hatte er versucht, Tobias zu überreden, einmal mitzukommen. Der Sport hätte ihm gutgetan und die Gesellschaft Gleichgesinnter ihm womöglich über den einen oder andern schlechten Tag
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