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Spiel der Angst (German Edition)

Spiel der Angst (German Edition)

Titel: Spiel der Angst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Etzold
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nicht töten. Nicht, solange sie machte, was er wollte. Aber wie lange sollte sie dies noch mitmachen? Oder besser: Wie lange konnte sie das mitmachen? Wie lange konnte sie das aushalten?
    Sie schaute auf die Uhr.
    Drei Uhr fünfundvierzig.
    Die Zeit zwischen drei und vier Uhr morgens.
    Die Zeit, wo man so einsam ist, wie niemals sonst.
    So einsam, wie ein einzelner Mensch in einer Kapsel am Ende des Universums.
    Sie stand auf, ging hinüber zum Spiegel, sah ihre blaugrünen Augen, sah die rotblonden Haare, die ihr Gesicht umrahmten, sah die vollen Lippen, die sie manchmal zusammenkniff, wie jetzt in diesem Moment, in dem sie sich so hilflos und allein fühlte. Sie sah den hellen, leicht keltischen Teint, der ihr jetzt, wo der Schrecken die Farbe aus ihrem Gesicht gezogen hatte und das bläuliche Licht des Mondes und der Straßenbeleuchtung dem Zimmer einen kalten Farbstich gab, viel heller und gespenstischer als sonst erschien.
    Es ist wie damals in London, dachte sie. Er jagt mich, und ich bin allein.
    »Was machst du da, Em?«
    Emily zuckte zusammen.
    Julia rieb sich die Augen.
    »Du hast mir einen Megaschrecken eingejagt. Dass du einfach so im Zimmer herumgeisterst wie ein Einbrecher.«
    Wider Willen musste Emily grinsen.
    »Du mir aber auch.«
    »Nun lass uns weiterschlafen«, knurrte Julia, »morgen wird es stressig genug.«
    Und in der Nacht träumte sie von Ryan.
    Und von dem, was in London passiert war.
    Vor einem Jahr.
    Als Jonathan dafür gesorgt hatte, dass Emily dachte, er, Ryan, wäre der Irre. Der Spieler.
    Es war Ryan, der von Inspector Carter aus dem Polizeiwagen gezerrt wurde. Und Emily konnte nicht schreien, sich nicht bewegen. Sie stand nur da wie eine Statue aus dem Skulpturenpark in New York, den sie gerade besucht hatte.
    Und im Traum, wie damals, als sie Ryan und Carter gegenüberstand, lief vor ihrem inneren Auge noch einmal der Film ab, wie sie sich kennengelernt hatten.
    Ryan, den Julia ihr vorgestellt hatte und den sie gleich gemocht hatte. Und von dem sie tatsächlich ein paar Sekunden geglaubt hatte, er selbst, Ryan, wäre der Irre. Das hatte Jonathan natürlich eingefädelt.
    So seltsam es war, als sie später merkte, dass Jonathan der wahre Irre war, war sie fast glücklich darüber. Zwar nicht glücklich, dass der Psychopath noch in Freiheit war, aber sehr glücklich darüber, dass es nicht Ryan war. Was sie auch niemals wirklich in ihrem tiefsten Inneren geglaubt hatte.
    Dann hatte sie angenommen, Jonathan sei endlich tot. Von einer U-Bahn in tausend Teile zerfetzt. Toter als tot. Unwiederbringlich.
    Doch er hatte überlebt. Er war noch immer da. Wie das Böse selbst, das man nicht auslöschen kann.
    Damals war Jonathan am Leben gewesen. Doch Ryan wartete am Ende auf sie.
    Jetzt war der Psychopath noch immer am Leben.
    Und Ryan war entführt.
    Es war so schlimm, wie es nur sein konnte.
    Und Jonathan würde weitermachen.
    Wahrscheinlich so lange, bis er tot war.
    Denn warum gibt es das Böse?
    Was haben Terroristen davon, wenn sie irgendwo eine Bombe hochgehen lassen?
    Warum tun Menschen das Böse?
    Manchmal nur, weil es böse ist.
    Und sonst nichts.

46
    Sie schreckte aus einem unruhigen Schlaf hoch, von dem sie glaubte, dass er nur ein paar Minuten gedauert hatte. Ihr Handy klingelte. Emily schaute auf die Uhr. Es war sechs Uhr morgens.
    Eine unterdrückte Nummer. Sie ahnte schon, wer es war.
    »Ja«, meldete sie sich.
    »Emily.« Kurz, knapp und gehetzt.
    Die Stimme von Ryan!
    »Ryan, wo bist du?«, rief sie aufgeregt in den Hörer.
    »Ich weiß nicht, wo ich bin, ich …«
    Dann brach seine Stimme ab. Jemand hatte ihm das Telefon abgenommen.
    »Emily«, hörte sie die Stimme, die sie so gut kannte. »Ich weiß nicht, ob die Bullen dein Handy schon verwanzt haben, aber ich bleibe eh nicht lange genug dran. Und dieses Prepaidhandy werde ich gleich danach verbrennen.«
    Er machte eine seiner bedeutungsschwangeren Pausen, während Emilys Blick ziellos durch den dunklen Raum schweifte und seltsamerweise dort stehen blieb, wo vor Kurzem noch die Kleiderpuppe gewesen war, die der Irre oder einer seiner Handlanger dort platziert hatte.
    »Wenn alles gut geht«, sprach die Stimme weiter, »hast du deinen Ryan vielleicht bald wieder. Allerdings nur, wenn alles gut geht. Wenn es schief geht …« Er hob die Stimme. Sie hörte Schritte. Wahrscheinlich verließ er den Raum, damit Ryan nicht hörte, was er sagte. »Wenn es schief geht, dann habe ich auch gute Nachrichten. Denn dann wird dein

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