Spiel der Angst (German Edition)
Ob sie hier überhaupt richtig waren. Oder ob sie in der Dunkelheit wieder zurückmussten, entweder mit der Fähre, die vielleicht gar nicht mehr fuhr, oder mit einer verkommenen Bahn, die wahrscheinlich genauso selten fuhr, oder einem sündhaft teuren Taxi. Und vielleicht meldete sich der Irre auch gleich wieder, um sie …
»Und ich befehle euch, dorthin zu gehen, wo die Bruderschaft der Schlange herkommt. Zu ihrem Berg. Nach Südosten«, las Julia den Text vor und fixierte den Türsteher aufmerksam.
Dessen Gesicht entspannte sich. »Willkommen in Snake Mountain«, sagte er und trat zur Seite. »Snake erwartet euch!«
»Und wie erkennen wir Snake?«, fragte Emily.
Der Türsteher grinste und zeigte Emily seine mit Metall beschlagenen Zähne. »Den erkennt ihr schon!«
Das Innere von Snake Mountain war eine Collage aus Industriehanger, Hafenanlage und Friedhof, und genauso mischten sich auch die Stile aus Gothic, Punk, Techno und Heavy Metal. Wenn es in der Musik Action-Painting gäbe, hätte man es hier sehen und hören können. Abgestandene Luft aus ranzigen Kippen und Alkohol stieg ihnen entgegen, getragen von der dröhnenden Musik, die ihnen wie ein Presslufthammer die Luft aus den Lungen zog.
Hinter ihnen schloss der massige Türsteher wieder die Tür, und sie waren endgültig von dem von Blitzen durchzuckten Club verschluckt.
Emily blickte auf die tanzenden Lichter, die über die Decke des Clubs wanderten, und die Männer und Frauen, die den Club bevölkerten.
Gepiercte und bleiche Gesichter an den Tischen. Was immer sie tranken oder auf anderem Wege zu sich nahmen, wollte Emily nicht wissen.
In der Mitte befand sich eine riesige Bar, hinter der, wie bei einem Altar, mehrere bronzene Schlangen in sich verwoben an der Wand hingen. Und hinter der Bar stand der Mann, der diesem Club offenbar seinen Namen gegebenen hatte, denn seine riesige Gestalt von fast zwei Metern war über und über mit Schlangentätowierungen bedeckt.
Selbst Julia, die sonst das Selbstbewusstsein in Person war, stockte für einen kurzen Moment. »Ist er das?«, fragte sie.
Emily nickte und trat instinktiv einen Schritt zurück. Sie versuchte, Snake nicht anzusehen. »Ich denke schon.«
Doch da hatte Snakes Blick, der wie ein Suchscheinwerfer den Raum durchpflügte, die beiden schon gesehen, und seine Augen fixierten Emily.
Die Augen, dachte sie.
Gelb und mit schräger Pupille. Tatsächlich wie bei einer Schlange.
Auch wenn es wahrscheinlich nur gefärbte Kontaktlinsen waren, der Kerl sah einfach unheimlich aus. Genauso wie der ganze Club.
Snake ließ sich zu einem Grinsen herab, das in seinem tätowierten Gesicht allerdings nicht freundlich aussehen wollte, und nickte beiden zu.
»Kennen wir uns nicht?«, fragte er.
»Ich glaube nicht«, sagte Emily unsicher.
»Aber meinen Bruder«, fuhr Snake fort, »meinen Zwillingsbruder, den kennst du doch noch?«
Und da dämmerte es Emily: Sie hatte diesen Mann schon einmal gesehen. Oder einen Mann, der so ähnlich aussah. Damals in London! In Whitechapel. Das war eine ähnliche Bar. In einem ähnlichen, seltsamen Viertel. Und diese Bar hieß »Scythe« – »Sense«. Genauso wie der Besitzer.
Von dort war sie vor einem Jahr in den Untergrund gelangt.
Hatte dort Jonathan gefunden.
Und ihre Eltern.
Hatte alles auf eine Karte gesetzt.
Und hatte gewonnen.
Allerdings nur vorläufig.
Auch der Typ damals war mindestens zwei Meter groß gewesen. Sie sah den kahlen Schädel noch vor sich, genau wie hier. Der Schädel war bei dem in London so tätowiert, als würde man das Gehirn darunter sehen, hier waren es Schlangen, die scheinbar aus dem Kopf herauskamen. Und auch dieser Mann, der sich offenbar Snake nannte, nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette, streckte dann seine Zunge heraus, löschte die Asche an seiner Zunge und warf die verglühte Kippe zu Boden.
»Snake zu Diensten«, sagte dieser und vollführte eine leichte Verbeugung, die bei seiner gewaltigen Größe automatisch etwas Ungelenkes hatte.
»Ich kenne dich nicht, aber ich glaube, du kennst ja, wie ich annehme, meinen Bruder.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Und erst jetzt sah Emily, dass Snakes Zunge gespalten war. Wie bei einer echten Schlange. »Meinen Zwillingsbruder!«
»Der in London«, murmelte Emily. »Whitechapel.«
Snake grinste zufrieden, wie ein Lehrer, der von seiner Schülerin die richtige Antwort gehört hatte.
»So ist es. Insofern kennen wir uns indirekt auch. Und es freut mich, dich
Weitere Kostenlose Bücher