Spiel der Angst (German Edition)
Stunden? Vielleicht länger? Ich weiß nicht, wie lange wir zwischendurch geschlafen haben.«
Auch Emily war sich nicht sicher. Sie hatten eine Zeit lang auf dem Boden gesessen und sich an die Steinwand gelehnt. Vielleicht hatten sie wirklich geschlafen. Zu Beginn hatten sie noch auf die Uhr auf ihren Smartphones geschaut, doch irgendwann hatten sie auch das gelassen. Nur weil die Zeit verging hieß das nicht, dass sie diese ewige und höllische Strecke meistern würden.
Doch jetzt hatten sie es geschafft.
Beide sanken zu Boden und lagen minutenlang auf dem früheren Hafenkai, auf dem in den Cafés und Restaurants geschäftiges Treiben herrschte. Nach einer Weile standen sie auf. Emily atmete noch immer schwer, und ihre Augen mussten sich an das helle Licht gewöhnen.
Eine Weile noch schwiegen sie nur und blickten auf die Stadt und auf Red Hook hinunter. Das Klingeln von Emilys Handy riss beide aus ihren Gedanken.
Sie nahm den Anruf an.
Es war wieder die Stimme des Psychopathen.
»Ihr seid durch den Gang gegangen, um Ryan zu suchen. Ihr seid am Ende des Ganges, und habt ihn nicht gefunden. So ist es manchmal im Leben.« Die Stimme kicherte. »Aber es gibt eine gute Nachricht: Ihr seid Ryan jetzt näher als zuvor! Darum hört gut zu! Auf ihrer Stirn steht der Name der Stadt, in der wir uns befinden. Und die Köpfe davon sind die sieben Berge. Geht zu dem, der der Zahl unserer Stadt entspricht. Und seid heute am frühen Abend dort. Dort wirst du weitere Instruktionen erhalten.«
66
Sie hatten mindestens eine halbe Stunde über dem Rätsel gegrübelt, ohne allzu große Fortschritte gemacht zu haben. Jetzt wurde allmählich die Zeit knapp.
»Ich verstehe das langsam nicht mehr«, klagte Emily. »Was meint er denn damit schon wieder? Sieben Berge? Wo gibt es hier sieben Berge?«
»Weißt du, was uns fehlt?«, fragte Julia.
»Erst einmal Zeit«, sagte Emily.
»Ja. Und irgendjemand, der sich mal wirklich gut mit diesen Themen auskennt. Fällt dir jemand ein?«
Emily dachte an die ersten Vorlesungen, die sie in Classical Studies hatte, die Seminare zu den dreihundert Spartanern, die den Einmarsch der Perser aufgehalten haben.
»Es gibt da jemanden«, sagte sie, »aber ob wir den heute am Sonntag erreichen können, ist fraglich.«
»Wer ist denn diese geheimnisvolle Person?«
»Bayne«, sagte Emily, »Professor Gerold Bayne. Außer dem fällt mir niemand mehr ein.«
»Wir wissen nicht, wie viel Zeit wir noch haben. Früher Abend kann ja alles heißen. Darum sollten wir jede Chance nutzen. Probieren kann man es ja mal.«
Emily zuckte resigniert die Schultern. »Auch wieder wahr.«
»Also los«, sagte Julia.
* * *
Gerold Bayne war tatsächlich zu Hause. Er hatte seine Wohnung auf dem Campus der Universität und schien sich fast zu freuen, dass zwei Studentinnen mit einem derart seltsamen Rätsel zu ihm kamen.
»Besser, als irgendwelche Klausuren zu korrigieren«, sagte er.
Emily und Julia hatten nicht umhin gekonnt, Bayne ein wenig in ihr seltsames Geheimnis einzuweihen. Er schlug auch sofort vor, die Polizei zu rufen, doch als ihm Emily von der Entführung Ryans berichtete, rückte er schnell davon wieder ab.
Sie saßen in seinem Studierzimmer, die Balkontür stand offen, und draußen sah man den Riverside Park und dahinter den Hudson River träge dahinfließen.
Der Text, den Emily auf einen Zettel gekritzelt hatte, lag vor Bayne auf dem Tisch.
HÖRT GUT ZU! AUF IHRER STIRN STEHT DER NAME DER STADT, IN DER WIR UNS BEFINDEN. UND DIE KÖPFE DAVON SIND DIE SIEBEN BERGE. GEHT ZU DEM, DER DER ZAHL UNSERER STADT ENTSPRICHT. UND SEID HEUTE AM FRÜHEN ABEND DORT. DORT WIRST DU WEITERE INSTRUKTIONEN ERHALTEN.
»Mit unserer Stadt meint er sowohl Babylon als auch New York«, sagte Julia. »Das haben wir mittlerweile schon verstanden.«
»Das scheint auch richtig zu sein«, sagte Bayne. »Babylon und New York werden häufig miteinander in Verbindung gesetzt. Jetzt ist von sieben Köpfen und von sieben Bergen die Rede.« Er blätterte in einigen Büchern. Eines davon war eine Bibel mit Goldschnitt. »Schauen wir doch mal.« Er blätterte durch das Neue Testament. »Ah hier, Offenbarung 17,5. Hier steht: Auf ihrer Stirn war geschrieben ein Name, ein Geheimnis: Das große Babylon, die Mutter der Hurerei und aller Greuel auf Erden.«
»Babylon und New York«, murmelte Emily.
»Allerdings.« Bayne nahm ein Blatt Papier und schrieb zwei Namen auf das Blatt.
N E W Y O R K
B A B Y L O N
Emily und Julia schauten
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