Spiel der Herzen (German Edition)
zu ihm ins Zimmer kam, um ihm gute Nacht zu sagen? Oder warum seine »Tante« sich so für seine Zukunft interessierte? Kümmerte es ihn überhaupt, was sie für ihn empfand? Oder galt seine tiefste Zuneigung allein seiner »Mutter«?
Der Gedanke war zu schmerzhaft. Wenn sie den Kleinen ansah, war es manchmal, als starrte sie ein Märchenschloss an, das in weiter Ferne auf einem Berg thronte. Er war ihr Sohn und gleichzeitig auch nicht. Würde er ihr jemals ganz gehören? Oder würde er sich noch weiter von ihr entfernen, wenn sie ihm irgendwann die Wahrheit sagte?
Ihm war eine Locke ins Gesicht gefallen, und sie musste sehr an sich halten, um sie ihm nicht hinters Ohr zu streichen. Sie wollte ihn nicht wecken. Er sah so goldig aus, wenn er schlief.
»Da bist du ja«, sagte eine leise Stimme.
Sie drehte sich zu Sissy um, die aus ihrem Schlummer erwacht war. »Ja.«
»Konntest du mit Mrs. Plumtree sprechen?«
»Nein, aber ich habe Lord Jarret dazu gebracht, dass er uns hilft.«
Sissy lächelte. »Das ist ja wunderbar!« Als Geordie sich unruhig zu wälzen begann, senkte sie die Stimme. »Ich wusste, dass du es schaffst.«
»Aber die Sache hat einen Haken.« Sie erklärte ihrer Schwägerin rasch, dass Lord Jarret mit ihnen nach Burton fahren wollte und warum.
»Oh je«, sagte Sissy. »Und wenn er Hugh sieht, wenn er wieder …«
»Wir müssen alles daransetzen, dass es nicht dazu kommt. Ich hoffe, ich kann mich auf deine Hilfe verlassen.«
»Natürlich!«
»Und wir müssen verhindern, dass Geordie irgendetwas sagt. Obwohl ich gar nicht weiß, was er sagen könnte – ich bin nicht einmal sicher, ob er das Problem mit Hugh überhaupt versteht. Wir müssen einfach dafür Sorge tragen, dass er unsere Behauptung unterstützt, Hugh sei krank.«
»Ich rede morgen früh mit ihm. Mach dir keine Gedanken – ich werde nicht zulassen, dass Hugh oder Geordie uns einen Strich durch die Rechnung machen. Es ist unsere einzige Chance.« Sissy lehnte sich in ihrem Sessel zurück. »Und nun erklär mir, wie es sich zugetragen hat. Wie hast du Lord Jarret dazu gebracht, dass er es sich anders überlegt?«
Sie seufzte. Sissy musste alles immer ganz genau wissen, und normalerweise erzählte sie ihr ihre Geschichten auch gern in sämtlichen Einzelheiten. Aber in diesem Fall war eine gemäßigte Version der Wahrheit besser.
Sie hatte ihrer Familie einmal mit ihrem Verhalten Schande bereitet, und sie wollte Sissy keinen Grund für die Vermutung geben, dass so etwas noch einmal passieren könnte.
6
Jarret marschierte die High Borough Street hinunter und bemühte sich vergeblich, die Wut zu unterdrücken, die Annabel Lake in ihm geschürt hatte. Nach ihrer spitzen Bemerkung, sie habe ihn da, wo sie ihn haben wollte, war er versucht gewesen, ihr auf der Stelle zu zeigen, wo er sie haben wollte.
Doch dass er ihr zu verstehen gegeben hatte, dass er sie begehrte, hatte sie eigentlich erst zu dieser Bemerkung veranlasst. Hatte er den Verstand verloren? Zuerst hatte er mit ihr um ihre Ehre gespielt, dann hatte er ebendiese im Korridor eines schmuddeligen Gasthauses beschmutzt. Was wäre geschehen, wenn jemand vorbeigekommen wäre? Wenn ihre Schwägerin aus dem Zimmer gekommen wäre?
Er hatte mit seinem Schwanz gedacht wie ein lüsterner junger Dandy, der neu in der Stadt war. Diese Frau brachte ihn um seine Selbstbeherrschung.
Ja, sie war hübsch. Doch das waren viele Frauen. Aber keine von ihnen hätte sich in eine Schänke voller Männer gewagt, um die Brauerei ihrer Familie zu retten. Keine wäre auf seinen skandalösen Vorschlag eingegangen oder hätte ihn beim Whist geschlagen.
Ihre Vermutungen zum Spielverlauf hatten ihn zur Weißglut gebracht. Nach allem, was geschehen war, hatte er gehofft, ihr wenigstens etwas Vernunft beigebracht zu haben. Doch statt zu begreifen, wie nah sie der Entehrung gekommen war, hatte sie ihm unterstellt, er habe sie gewinnen lassen.
Diese Frau konnte einen wahnsinnig machen. Ja, wahnsinnig! Sie hatte keine Ahnung, wie sehr sie einen skrupellosen Mann in Versuchung führen konnte, und kein Bewusstsein für Gefahr. Wie konnte sie in ihrem Alter noch so naiv sein? Fast dreißig? Er hätte sie nie so alt geschätzt – sie sah so frisch und bezaubernd aus wie ein Frühlingsstrauß. In die Jahre gekommen, von wegen!
Und was war mit den Männern von Burton los, dass sie noch keiner von ihnen zur Frau genommen hatte? Es ergab keinen Sinn, dass sie noch nicht verheiratet war. Es sei denn, sie war
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