Spiel der Schatten (German Edition)
seine bleiche, schweißnasse Stirn.
»Wir brauchen einen Arzt«, sagte sie leise und mit dem hässlichen Gefühl, dies schon einmal durchlebt zu haben.
»Albert und Hank sind unterwegs, um einen Doktor zu holen«, erwiderte Lucy, »aber es ist schwer, einen zu finden.«
»Ich weiß«, entgegnete Cyn bitter. »Vor allem, wenn man kein Geld hat, um im Voraus zu bezahlen.«
»Das allein ist es nicht. Offenbar ist dein Vater nicht der einzige Fall von plötzlich auftretendem Fieber. Manche reden bereits von einer Epidemie.«
Ängstlich blickte Cyn auf ihren Vater, der schwer atmend vor ihr lag und seiner verzerrten Miene nach schlimme Fieberträume durchlitt. Ihr kam der Gedanke, dass dies der Grund für sein verändertes Verhalten gewesen sein könnte, für die Apathie, die er zuletzt an den Tag gelegt hatte, und es erschien ihr wahrscheinlich. Jedenfalls sehr viel wahrscheinlicher als die abwegige Geschichte, die der betrunkene O’Riley von sich gegeben hatte.
Angesichts der Angst, die sie jetzt quälte, jener furchtbaren Angst nämlich, nach ihrer Mutter und ihrem Heim nun auch noch ihren Vater zu verlieren, kam ihr die unvernünftige Furcht vor unsichtbaren Beobachtern plötzlich töricht und kindisch vor. Sie hätte ihrem Vater sehr viel besser helfen können, wenn sie zu Hause geblieben wäre, statt in der Stadt umherzuirren und Hirngespinsten nachzujagen.
Aber noch war es nicht zu spät …
»Es ist gut«, sagte sie leise, an Lucy gewandt. »Du kannst gehen. Ich werde bei ihm bleiben.«
»In Ordnung, Kind.« Lucy tätschelte ihre Schulter und zog sich dann leise zurück. »Ruf mich, wenn du mich brauchst.«
Cyn nickte. Für einen Moment wurde es hell, als Lucy die Tür öffnete und nach draußen ging. Dann fiel die Kammer wieder in flackerndes Halbdunkel zurück.
Cyn setzte sich auf die Bettkante und betrachtete das Gesicht ihres Vaters, die Züge, die ihr so vertraut waren und doch so fremd. Ohnehin war Horace Pence in den letzten Tagen nicht mehr der Mann gewesen, den Cyn als ihren Vater kannte. Nun jedoch war er zu einem Schatten seiner selbst verblasst.
Vom Tod gezeichnet …
Der Gedanke erschreckte Cyn. Sie verdrängte ihn rasch wieder und kämpfte die Tränen mit aller Macht nieder. Sie half ihrem Vater nicht, indem sie weinend an seinem Bett kauerte. Stattdessen nahm sie eines der Tücher, die Lucy bereitgelegt hatte, tauchte es in die mit Wasser gefüllte Schüssel, die neben der Kerze auf dem Nachttisch stand, und wusch ihm damit die schweißnasse Stirn.
»Oh Vater«, flüsterte sie, und in Gedanken bat sie ihn um Verzeihung für all die hässlichen Dinge, die ihr in den letzten Tagen durch den Kopf gegangen waren, für ihren hilflosen Zorn und ihre törichten Ängste. »Lass mich nicht allein, hörst du?«, wisperte sie fast unhörbar. »Lass mich nicht allein …«
Sie legte das Tuch beiseite und strich ihm sanft über das Gesicht. In diesem Moment öffnete er die Augen.
»Vater!«
Cyn war unendlich froh über dieses Lebenszeichen. Doch ihr Vater war weit davon entfernt, in dieser Welt zu weilen. Sein Blick war fiebrig, seine Augen zuckten suchend umher.
»Wo …?«, hauchte er.
»Zu Hause, im Theater«, versicherte Cyn mit ruhiger Stimme.
»Theater …« Seine Augen suchten noch immer, schienen nichts zu finden, woran sie sich festhalten konnten. Dann, plötzlich, hellten sich seine Züge auf, als ob ihm plötzlich etwas eingefallen wäre. »Der Puck«, entfuhr es ihm.
»Was ist mit ihm?«
»Ich … ich habe ihn verloren!«
»Ich weiß, Vater.«
»Du … du musst ihn wiederfinden«, flüsterte er beschwörend. »Der Puck ist alles!«
»Alles?« Cyn hob die Brauen. »Vater, ich verstehe nicht.«
»Ich bitte dich, mein Kind«, wisperte er, und für einen Moment gelang es ihm tatsächlich, seinen Blick auf sie zu richten. »Du musst den Puck zurückholen … gehört zur Familie …«
Cyn schürzte die Lippen. Am liebsten hätte sie ihrem Vater gesagt, dass ihr die Puppe gleichgültig war, solange er nur wieder gesund würde, doch sie konnte sehen, wie wichtig ihm die Sache war und wie sehr sie ihn quälte. Nun erst schien ihm klar zu werden, was für einen Verlust er erlitten hatte. Geradeso, als ob sein Wohl und das des Pucks untrennbar miteinander verbunden wären.
»In Ordnung, Vater«, sagte sie leise. »Ich werde sehen, was ich tun kann. Wo hast du den Puck verloren?«
»Wo ich ihn …?« Er schien nachzudenken, aber aus seinen Zügen sprach nur Unverständnis.
»Weißt
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